Auf Berlins Straßen: Früher war man unter sich
Über die Touristen und ihr ungehobeltes Auftreten wird in Berlin viel gejammert. Zu viel.
D as Gejammer über SIE ist überstrapaziert. Kleinkariert. Provinz in der Stadt. SIE, die Touristen. Haken dran und gähn. Einerseits. Andererseits steht da dieser Typ auf einer Stele des Holocaust-Mahnmals. Breitbeinig. Drei Freunde zücken Smartphones. Der Typ reckt die Arme in den Himmel und macht das Victory-Zeichen. Niemand sonst ist da, am Volkstrauertag. Ich gehe hin und höre die Männer Türkisch sprechen. Kein Berliner Türkisch. Ich frage, ob sie wüssten, wo sie sind. No, we don’t, just some kind of event place. Sie grinsen. Die israelische Armee fliegt Angriffe auf den Gaza-Streifen, die Hamas schießt Raketen auf Tel Aviv. Ich sage, ich hätte nicht die Befugnis, ihnen irgendwas zu verbieten, aber auf den Stelen rumspringen dürften sie nicht, es gehe hier um Millionen Ermordete. Kichernd trollen sie sich.
Nour war gerade acht Wochen im Libanon, die Eltern besuchen, herrlich, die Sonne, das Meer. Aber nur Schlitzohren hätten im Libanon eine Chance. Er dagegen sei ein ehrlicher Typ, ein Deutscher. Seit 25 Jahren lebe er im Wrangelkiez, seit sechs Jahren hat er seinen Imbiss, hier ist er zuhause. Und jetzt kommen SIE. Früher war man noch unter sich. Araber und Türken. Außer ihm wohnen im Haus nur noch SIE: Amerikaner, Spanier, Italiener. SIE kaufen billiges Bier bei Kaiser’s und billige Drogen im Park, dann feiern SIE in den Wohnungen Sexorgien. Er hört SIE dabei, schläft nicht mehr. Manchmal findet er jetzt Spritzen auf seinem Imbiss-Klo. Und anschreiben wollen SIE immer. Von wegen Touri-Umsatzplus. Den Kiez haben SIE kaputtgemacht.
Ich kann nicht behaupten, dass ich als Anwohnerin des Görlitzer Parks im Sommer nicht hie und da gedacht hätte: Schlimmer kann’s nicht werden. Die Trommeln, die Bands, die Nationalhymnen um vier Uhr nachts, die Scherben jeden Morgen. Die Polizei habe ich nicht gerufen, sondern den Mariannenplatz wiederentdeckt. Zum Auftanken. Hier sitzt man noch allein auf der Bank, das Kind schläft im Wagen, bis einer freundlich ruft: „Da bin ich!“ Ein Fahrradfahrer mit schlechten Zähnen bremst. „Da bin ich!“ – „Und wer bist du?“ – „Na, Rico de Loco!“ – „Wer?“ – „Der mit der Lieferung!“ – „Lieferung?“ – „Hast du nicht angerufen?“ – „Nein.“ – „Ach, dann muss ich weiter.“ – „Was hättest du denn geliefert?“ – „Na, Weed!“ (Setzt sich, zieht ein Tütchen hervor, wedelt damit herum). „Aber ich könnte auch schlechtes Weed in eine Tüte getan haben, in der mal gutes Weed war. Du musst innen riechen!“ (Öffnet das Tütchen) „Kannst mich jederzeit anrufen.“ – „Du gibst deine Nummer raus?“ – „Hm, nein. Setz dich wieder auf die Bank, ich komme vorbei. Mir sind junge Mütter als Kunden am liebsten. Die lassen nie was nach außen dringen, sind diszipliniert.“
Genau das ist der Unterschied zwischen schon zehn Jahre Ansässigen und IHNEN.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja