: Anrufung des Herzjesuleins und der verfluchten Schnallen
EXZENTRIK Astrid Rosenfeld beweist in ihrem zweiten Roman, „Elsa ungeheuer“, erstaunliches erzählerisches Talent
Manchmal ist der erste Satz eines Romans auch sein Programm. „Für manche Menschen scheint die Erde einfach nicht der rechte Ort zu sein, und meine Mutter Hanna war so ein Mensch.“ Auf Figuren und Geschehnisse nicht von dieser Welt stimmt Astrid Rosenfeld ihre Leser gleich zu Beginn ein.
Schon wenige Sätze später hat sich die schizophrene Mutter des kindlichen Icherzählers eine rosa Unterhose über den Kopf gestülpt und ist vom Balkon gesprungen. Und gibt damit die Bühne frei für eine Geschichte, die mit der skurrilen Kindheit zweier Brüder in einem heruntergekommenen Feriengasthof in der Oberpfalz beginnt – um dann im Glamour des internationalen Kunstmarkts ein paar unheilvolle Wendungen zu nehmen.
Karl und Lorenz Brauer wachsen mit einem Vater auf, dem mit dem Tod seiner Frau die Kontrolle über alles Irdische entgleitet. Während er in Alkohol und Kummer ertrinkt, nehmen sich die alte Haushälterin Frau Kratzler und der Dauerpensionsgast Murmelstein der Kinder an. Zwischen der Anrufung des „Herzjesuleins“ am Mittagstisch und den vom ehemaligen Casanova im Gutenachtton erzählten Sexabenteuern aus aller Welt wachsen die Brüder behütet auf.
Dann platzt die zehnjährige Elsa in die Idylle – zu Papa und Onkel abgeschoben von ihrer Mutter, die mit dem neuen Mann auf Weltreise entschwindet. Von der Begegnung mit dem rothaarigen Mädchen, das, frühreif und eigensinnig, bald zur Königin des Kindertrios wird, erholen sich Lorenz und Karl nie wieder. Während im dicklichen Karl, dem Erzähler, eine ebenso hoffnungslose wie bedingungslose Liebe entbrennt, verbindet den älteren Lorenz und Elsa etwas, das der kleine „Fetti“ nur ahnt. Und erst begreift, nachdem sich am Küchentisch von Elsas Onkel, dem Ufer des Badesees und der Villa einer greisen Kunstsammlerin bei Den Haag mehrere Katastrophen ereignet haben.
Wie schon Astrid Rosenfelds Debut „Adams Erbe“, eine leichtfüßige Erzählung von einer Liebe im Holocaust, fließt auch „Elsa ungeheuer“ fast über vor liebenswert-exzentrischem Personal: Dds „Murmeltier“, das nach einem Autounfall im Dorf hängen bleibt und die Schmach seiner Impotenz durch allabendliche Anrufungen aller „verfluchten Schnallen“ und „verdammten Fotzen“ der Erde zu überwinden sucht – die Kinder müssen sich an dieser Stelle die Ohren zuhalten – ist eine Figur, die kinderbuchhafte Züge trägt.
Bunte Figurenmenagerie
Ebenso die schöne Mathilde, Elsas Mutter, deren Anblick noch nach ihrem Abgang aus dem Dorf die männlichen Einwohner in erotischen Taumel versetzt. Es sind keine herkömmlichen Charaktere, die Rosenfelds Romane bevölkern, sondern es ist eine bunte Figurenmenagerie, die durch den Zirkus einer atemberaubenden Handlung tingelt. Die Zirkusatmosphäre hat etwas Magisches und, aller Tragik zum Trotz, Tröstliches.
In „Elsa ungeheuer“ geht es um eine innige Bruderbeziehung, eine außergewöhnliche Kindheit. Und eine Liebe, die sich durch nichts und niemanden beirren lässt. Diese Konzentration auf wenige Leitmotive und die Vorliebe für Slapstick erinnern an den US-amerikanischen Erfolgsautor John Irving. Astrid Rosenfeld hat auch so ein außergewöhnliches Erzähltalent. Man möchte ihren Figuren bis ans Ende der Welt folgen, so flüssig erzählt sie. Und so packend, dass man es bedauert, wenn die Geschichte nach 277 Seiten die finale Wendung erreicht hat.
Das allzu Flotte und Farbige geht, wie bei Irving, aber auch zulasten der literarischen Tiefenschärfe. Die Handlung jagt von der Oberpfalz über Texas, wo Elsa als Frau eines Rinderzüchters lebt, in die internationale Kunstszene, in der Lorenz Brauer mithilfe zweier Frauen als neuer Starkünstler aufgebaut wird. Sein Bruder Karl, ewiger Sekundant, steigt mit ihm empor – und wieder abwärts. Und entdeckt am Ende das Geheimnis, das Lorenz und Elsa verbindet.
Diese Dreieckskonstellation hätte mehr Ernsthaftigkeit, mehr Raum verdient. So gleitet die Handlung merkwürdig wohltemperiert über Themen wie sexuelle Gewalt und Geschwisterrivalität hinweg – und am Ende ist einem warm ums Herz, ohne dass es zuvor richtig kalt geworden wäre. Bei so viel erzählerischer Potenz ist das ein bisschen schade. NINA APIN
■ Astrid Rosenfeld: „Elsa ungeheuer“. Diogenes Verlag, Zürich 2013, 277 Seiten, 21,90 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen