#Aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek: Die stille Aufrührerin
Die Bloggerin Anne Wizorek lieferte das Schlagwort für die jüngste Sexismus-Debatte. Sie will den Rummel nutzen, denn es gebe viel zu besprechen.
Manchmal kann ein einzelnes Wort etwas in Gang setzen, weil es bündelt, was an die Gefühle vieler Menschen rührt. Im Internet können sich solche Wörter schlagartig ausbreiten, immer wieder neu verlinkt in Blogs, sozialen Netzwerken und Online-Foren. Jede Zeile führt sofort zu weiteren Zeilen, jeder Satz zu einem Stoß weiterer Sätze.
So wie das Wort „Aufschrei“. Anne Wizorek zieht ihre Mütze vom Kopf und stellt die tomatenrote Ledertasche unter den Tisch, um den schon vier, fünf junge Männer sitzen. Der enge Besprechungsraum der Design-Agentur geht zu einer Seitenstraße in Berlin-Friedrichshain heraus. Apple-Symbole glimmen. Die Wintersonne wirft schwaches Licht. Es schneit.
Sie senkt den Blick auf ihren Mac, Chatleisten und Browserfenster blinken vor ihr auf. Neulich hat jemand sie gefragt: „Hättet ihr das alles nicht besser planen können?“ Sie lächelt dünn, amüsiert und noch etwas verwundert über das, was sie da losgetreten hat. „Wie denn? Das war doch eine ganz spontane Sache.“
Es begann an einem Donnerstag im Januar. Am Morgen erscheint auf dem Blog Kleinerdrei ein Beitrag über sexuelle Belästigung. Die Autorin weist auf eine Twitter-Kampagne in England hin, die solche Vorfälle zusammenträgt: „Was hält uns davon ab, da mitzumachen?“, fragt sie.
Als der Sturm ausbrach
Vielleicht wäre es dabei geblieben, wäre nicht an dem Tag der Stern mit einem Porträt Rainer Brüderles erschienen. Eine junge Reporterin beschrieb, wie der FDP-Politiker auf ihre Fragen mit anzüglichen Sprüchen reagierte. So kam eines zum anderen. Die Ersten fingen an, auf Twitter eigene Geschichten zu erzählen, stichwortartig, in 140 Zeichen. Es ist schon spät, kurz nach Mitternacht. Anne Wizorek alias @marthadear sitzt noch am Computer. Sie schreibt: „wir sollten diese erfahrungen unter einem hashtag sammeln. ich schlage #aufschrei vor.“
Dann brach der Sturm los.
Das ist jetzt drei Wochen her. Drei Wochen, in denen viel gesagt worden ist über sexuelle Diskriminierung, über Macht, Gewalt und Geschlecht. „Mir kommt es vor wie eine kleine Ewigkeit“, sagt Anne Wizorek, „es ist alles extrem intensiv gewesen.“ Sie sieht jünger aus als 31, mit feinen Gesichtszügen, zarten Schultern und Pferdeschwanz. In flachen Stiefeln läuft sie über das Parkett der Agentur, deren Inhaber Freunde von ihr sind. Im Gehen wendet sie den Kopf und erzählt, dass sie einen Internet-Radiosender gründen möchten, auf dem ihre Lieblingsmusik läuft.
Deswegen ist sie hier. Doch zuerst müssen sie Lizenzen beantragen. Sie seufzt leise, ihre Zeit ist knapp, gerade dieser Tage. Sie steigt die Treppe hoch in den ersten Stock, lässt sich auf einem olivgrünen Sofa nieder.
Anne Wizorek zählt zu denen, die schon länger versuchen, die Möglichkeiten des Internet auszuloten. Um sich Gehör zu verschaffen, Ideen zu verbreiten, Netzwerke zu knüpfen. „Twitter ist ein fester Bestandteil meines Tages“, sagt sie, „das ist das Erste, was ich nutze: Wenn ich wach bin, wird erst mal Twitter gecheckt.“ Als Beraterin für Online-Kommunikation erklärt sie ihren Kunden, darunter der Schweizer Bundesbahn, wie sie soziale Netzwerke wie Facebook für sich nutzen können. Das Studium brach sie ab. Literaturwissenschaft. Sie verließ die Uni, als es auf die Prüfungen zuging. Den Abschluss machen, das hätte bedeutet, dass sie erst mal nicht mehr arbeiten kann. Das konnte sie sich nicht leisten. Ohnehin liegt ihr das Praktische mehr.
Eine andere Debattenkultur
Zuletzt hat sie den Blog Kleinerdrei mitbegründet, daneben führt sie ihren Blog „An Apple a Day“. Dort stellt sie sich vor als „Nerdette mit Wohnsitz Internet & Berlin“. In dieser Reihenfolge.
Insgesamt gingen vom 25. bis zum 31. Januar 49.000 Tweets mit dem Hashtag #aufschrei ein, dazu 30.000 weitergeleitete Beiträge, Retweets. Damit war der #aufschrei die bis dahin größte Debatte, die es in Deutschland je auf Twitter gab. „Dass das so explodiert ist, zeigt, dass es Redebedarf gibt“, sagt Anne Wizorek.
Es zeigt aber auch noch etwas anderes: #aufschrei könnte ein Hinweis sein, dass sich die Debattenkultur in Deutschland verändert. Zum ersten Mal hat sich ein Thema im Internet verdichtet, bevor die etablierten Medien darauf eingestiegen sind. „Die alten Medien“, sagt Wizorek. Sie war manchmal enttäuscht, wie das Thema behandelt wurde. Sie stört, dass sich die Sicht oft auf eine Polarisierung verengte. Auf einen Kampf der Geschlechter.
Vor allem in Talkshows fehlte es ihr an Substanz. Die Blogger im Netz seien bereits viel weiter. „Da wird die Debatte auf dem richtigen Niveau geführt und mit der richtigen Differenzierung.“ Ihr geht es um einen feministischem Diskurs, der bewusst macht, welche Strukturen das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern aufrechterhalten.
„Ein zwangsweise dickes Fell“
Die Aktivistin ist eine zurückhaltende Frau, die in nüchternen Sätzen spricht. Sie fährt nicht hoch, sie eifert nicht. Keine Gesten, ruhige Mimik. Sie sitzt fast reglos da, die Beine überschlagen, die Arme überkreuzt, so als wollte sie all die Aufregung ein Stück von sich fernhalten.
Sie hat viele positive Rückmeldungen bekommen. Doch es gab auch allerhand Pöbeleien, sogar Drohungen. Anne Wizorek ist einiges gewohnt. „Sobald man als Frau zu bestimmten Themen schreibt, kommen solche Reaktionen“, sagt sie. „Man legt sich zwangsweise ein dickes Fell zu.“ Einer schrieb, sie solle auch nicht mit so einem tiefen Ausschnitt bei Günther Jauch sitzen. Tief? Sie lacht kurz auf und deutet auf den Kragen ihres Pullovers, der eine Handbreit unterm Schlüsselbein verläuft. „Der war so!“
Ab und an gibt es solche unsicheren Momente, in denen man spürt, dass sich manches doch nicht so leicht abstreifen lässt. Ihr setzte vor allem der Hohn mancher Frauen zu, die den #aufschrei als Hysterie abtaten und die Geschichten auf Twitter als Lappalien. „Wenn sie keine Erfahrungen damit haben, ist das ja toll. Aber dass sie anderen ihre Erfahrungen absprechen, das hat mir schon wehgetan.“ Sie stützt das Kinn auf ihrer Hand ab. Am Puls trägt sie eine Tätowierung, Pfeile wie auf den Tasten eines MP3-Players, mit denen man vor- und zurückschaltet.
Anne Wizorek trägt sich schon lange mit dem Gefühl, dass etwas falsch gelaufen ist in Deutschland, wo Frauen auch heute noch in der Arbeitswelt benachteiligt sind und sich auf der Straße oft nicht sicher fühlen. Sicher, meint sie, spielt es eine Rolle, dass sie in der DDR groß geworden ist, wo das Frauenbild anders war. Sie wuchs in Ostberlin auf, die Mutter war Maschinenbauingenieurin. Dass Mädchen bestimmte Fähigkeiten abgesprochen werden, wollte sie nie einsehen. Trotzdem tat sie sich mit dem Begriff „Feministin“ lange schwer, weil er so nach Frust und Männerhass klang.
Eher Valenti als Schwarzer
Erst im Internet fand sie einen Zugang zu ihrem Thema. Sie hatte während eines Semesters in Norwegen angefangen zu bloggen, „damit die Leute zu Hause wissen, wie es mir geht“. Dann stieg sie tiefer ein. Sie stieß auf Websites wie den US-Blog Feministing.com und begann, sich mit Aktivistinnen auszutauschen, die ihre Anliegen teilten.
Oft heißt es, dass die deutsche Frauenbewegung seit den 70ern ins Stocken geraten ist. Mit Alice Schwarzer, die das Thema seit 40 Jahren dominiert, können junge Frauen heute oft nicht mehr viel anfangen. Auch Anne Wizorek fühlte sich eher von US-Feministinnen wie Jessica Valenti angesprochen. Doch es ärgert sie, dass einige Medien getan haben, als gebe es einen Konflikt zwischen ihr und Schwarzer. Tatsächlich kann sie sich durchaus vorstellen, einmal mit der Emma-Chefin zusammenzuarbeiten.
Allerdings versteht sie sich als Teil einer neuen Generation von Frauen, die ihre eigenen Schwerpunkte setzen. „Der Feminismus hat sich weiterentwickelt seit Alice Schwarzers Zeit. Im Netz sind so viele Frauen aktiv. Doch das wird nicht sichtbar gemacht.“
Aufmerksamkeit haben sich die Aktivistinnen jetzt ertrotzt. Wenn es gut läuft, kann das Internet eine neue Chance für den Feminismus sein, meint Anne Wizorek. Doch wie dauerhaft der Aufbruch sein wird, muss sich noch zeigen, das weiß sie. „Mir war schnell klar: Wenn ich und die anderen Frauen diese Plattform nicht nutzen, schläft die Diskussion gleich wieder ein.“
„Ein Gefüge, das ineinandergreift“
Erste, zarte Veränderungen zeichnen sich bereits ab. Bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes sind seit Januar deutlich mehr Fälle sexueller Belästigung gemeldet worden. Offenbar hat der #aufschrei manche Frauen ermutigt sich zu wehren. „Da ist ein Funke gezündet worden“, sagt Anne Wizorek.
Online geht der Protest ohnehin weiter. Die Bloggerin Nicole von Horst hat die Website „Aufschreien gegen Sexismus“ eingerichtet, auf der Frauen ihre Erlebnisse nun dauerhaft teilen können. Auch homophobe, klassistische und rassistische Vorfälle sollen dort öffentlich gemacht werden. Für die jungen Feministinnen gehört all das zusammen. „Es ist ja ein Gefüge, das ineinandergreift“, sagt sie. „Man kann nicht das eine bekämpfen und das andere ignorieren.“
Dann wird es allmählich Zeit. Anne Wizorek hat noch einiges vor sich. Sie springt die Treppe herunter, ihre Freunde warten im Besprechungszimmer. Der Schneefall hat nachgelassen. Wie es nun weitergeht, muss sie noch überlegen. Ihr wurden Buchverträge angeboten, auch aus der Politik kamen Anfragen.
Doch erst muss die Aufregung etwas abklingen. In ihrem Kopf hallen manche der Tweets noch nach. Bestürzt hat sie vor allem, wie früh manche Mädchen sexistische Erfahrungen machen. „Mir ist auch aufgefallen, wie wenig wir als Frauen über das Thema sprechen.“ Einen ersten Aufschrei haben jetzt viele gewagt, doch so, wie Anne Wizorek es sieht, ist das nur der Anfang. Es gibt noch viel zu besprechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“