Ausstellung in der Bremer Kunsthalle: Ein Fest für Wols
Wols zählt zu den wichtigsten und vergessensten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Zu seinem 100. Geburtstag versucht die Bremer Kunsthalle die Verdrängung zu überwinden.
BREMEN taz | Das habe ich eigentlich immer gewusst – so schießt es durch den Kopf, bei der Begegnung mit den Gemälden und Zeichnungen von Wols in der Kunsthalle Bremen. Das habe ich immer gewusst, nur nicht daran gedacht, so oder so ähnlich, denn es ist wie ein lange unbewusst ersehntes Wiedererkennen: Sie haben etwas seltsam Vertrautes, diese Miniaturzeichnungen, die Fotos und erst recht die pastosen Ölgemälde von Otto Alfred Wolfgang Schulze.
Fast so, als wären sie stets abrufbar gewesen, im großen Bildgedächtnis, wo neben Friedenstauben und Sonnenblumen und der Mona Lisa doch auch ein „Trunkenes Schiff“ von 1951 sich wiegen müsste – also jene Ansammlung panischer, schwarzer Stricheleien über transparenten Zinnoberlinien entlang einer unsichtbaren Achse im Zentrum einer dunkelgrünlichblau grundierten Leinwand. Gréty, die Frau des Künstlers, hat ihr irgendwann den Titel jenes berühmten Gedichts gegeben, von Arthur Rimbaud, den hat Wols gern gemocht.
Aber das ist trügerisch: In die Irre führen die Titel, weil Wols Kunst „nicht in die Zuständigkeit der Sprache“ fällt, wie Jean-Paul Sartre bemerkt hat; „die Malerei hat sich völlig von der Literatur gelöst“. Und auch die Vertrautheit täuscht: Denn in Wirklichkeit hat, so stellt Gastkurator Ewald Rahtke beim Rundgang durch die Ausstellung mit dem angemessen großspurigen Titel „Wols. Die Retrospektive“ klar, „ein etwa 40-jähriger Mensch fast keine Chance gehabt, jemals ein Bild von Wols zu sehen“.
Wols wurde 1913 in Berlin als Alfred Otto Wolfgang Schulze geboren. Sein Künstlername setzt sich zusammen aus den ersten Buchstaben von Wolfgang Schulze.
Der Fotograf, Maler und Grafiker gilt als Hauptbegründer und Wegbereiter des Tachismus.
1932 emigrierte er nach Paris und machte sich ab 1936 als Fotograf einen Namen.
Zwischen 1939 und 1945 war Wols auf der Flucht und wurde mehrfach interniert.
Ab 1945 stellte er seine Bilder in Paris,Mailand und New York aus.
1951 starb Wols an einer Lebensmittelvergiftung in Paris.
Ein Original, wenigstens. Denn letztmals gab es 1989 einen Überblick über das Schaffen des 1913 in Berlin geborenen Wolfgang Otto Schulze, in Zürich. Er war nicht so vollständig wie die Bremer Veranstaltung, die knapp die Hälfte der rund 80 Ölgemälde zeigt, die der 1951 im Alter von gerade einmal 38 Jahren in Paris gestorbene Künstler schuf. Und seither war wenig: Rar sind die Wols-Ausstellungen, das Verdrängen wuchert. Wobei es museumspolitisch ein nicht uninteressantes Detail ist, dass ausgerechnet in Bremen rund ein Jahr zuvor das Museum Weserburg eine Wols-Schau auf die Beine gestellt hatte, „Circus Wols“, nach einer berühmten Werkgruppe.
Auch für dieses Ereignis war, mit viel Tamtam, ein Gastkurator geholt worden, der in der Kunstszene prominente Objektkünstler Olaf Metzel. Der verstand die Ausstellung indes eher als Installation, als Teil seines eigenen Werkkataloges. Und so erhielten im Zirkus Metzel Wols’ Aquarelle den bedauerlichen Status gestürzter Trapezkünstler, die, aus alter Anhänglichkeit durchgefüttert, Billetts abreißen und Zuckerwatte verkaufen, aber während der Vorstellung wehmütig irgendwo am Rande rumhängen.
Falscher lässt sich mit einem Werk, dass großartig, aber zu wenig beachtet ist, kaum umgehen: Dieses dramatische Scheitern aber war angesichts der Dauerkrise der Weserburg örtlich meist nur beißgehemmt angedeutet worden. Jetzt aber ruft es der große Kunsttempel der Stadt ganz unvermittelt ins Gedächtnis – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo doch der Weserburg-Museumsdirektoren-Vertrag noch gar nicht verlängert ist. Auch wenn dieses Zusammentreffen zufällig sein sollte (aber gibt es Zufall?) – als ein Akt der Solidarität unter Chefs lässt es sich nicht deuten.
Dieses Schlaglicht wird so grell, weil es ja der Kunsthalle mit ihrer Ausstellung gelingt, ein Fest für Wols zu feiern oder mit ihm oder: seine Kunst als ein Fest für die Augen zu inszenieren, indem man sie als ziellose Verausgabung erkennbar macht.
Denn es gibt keinen Punkt der Ruhe bei Wols, schon auf der Makroebene nicht. Der Künstler nämlich – das ist jetzt kein Biografismus – irrlichtert von Medium zu Medium, jedes einzelne eignet er sich an, bis er es, verblüffend schnell, meisterhaft beherrscht – um es dann aufzugeben, zugunsten eines anderen. Anfang der 1930er Jahre beginnt Otto Alfred Wolfgang Schulze als Fotograf, nachdem er die Schule abgebrochen und einen Job als Geiger in einem Spitzenorchester abgelehnt hat.
Was er vorhat ist: ein Wanderkino in Südfrankreich betreiben. Dafür bekommt er keine Arbeitserlaubnis. Er verliebt sich in die Rumänin Gréty Dabija, die anderweitig verheiratet ist, brennt mit ihr nach Ibiza durch. Die Fotografie, kaum bekommt er, zurück in Frankreich, lukrative Aufträge, lässt er sein. Stattdessen beginnt er zu zeichnen und zu aquarellieren – stets ohne Plan, ohne Vorentwurf, mit vollem Risiko und vollendet unscheinbar zugleich. Und schließlich wendet er sich doch der Ölmalerei zu, über die er so scheinbar endgültig den Stab gebrochen hatte: „Das ist bereits Ehrgeiz und Gymnastik, ich will es nicht.“ Bilder verkaufen – das lehnt er ab. Zwischendurch wird er interniert, erst in Spanien, später in Aix-en-Provence, als feindlicher Ausländer. Ein Schicksal, das ihn weniger erschüttert: „Hier ist es so schön“, soll er in Aix-Les Milles seinem Mithäftling Max Ernst gesagt haben, „hier will ich bleiben.“ Er säuft, er säuft sich ziemlich bewusst in Richtung Tod. Aber eher, wie es scheint, aus Neugier, denn aus Verzweiflung: Was wie Eskapismus wirkt, ist keine Flucht – sondern eine berührend radikale Weltfremdheit.
Die Kunsthalle zeigt deshalb im Prinzip drei Ausstellungen auf einmal: Ein Saal ist Wols dem Fotografen gewidmet, der Bodenstrukturen und Risse im Putz mit der Kamera sondiert, aneinander gedrängte Merguez-Würstchen in einer Pfanne oder Schweineniere auf Wohnzimmertapete in glänzende Schwarz-Weiß-Aufnahmen bannt und der ein Auge hat für auf regennassem Kopfsteinpflaster zerstreute Gliedmaßen von Zelluloid-Puppen. In großer, fast erschlagender Masse zeigt sie die filigranen, zart aquarellierten Tuschzeichnungen, deren haardünne Linien assoziative Tänze aufzuführen scheinen, in denen Gegenstände auftreten, sich verwandeln und in der Verwandlung verschwinden, sodass jede einzelne zu betrachten, Stunden erfordern würde. Und dann sind da die Gemälde, die in ihrer wohlüberlegten Wildheit – Ritzungen, Schichtungen bilden freie Rhythmen – einfach nur zu bestaunen sind: Die völlige Lösung vom Gegenstand bewirkt, dass die Elemente dieser Kunst selbstständig in die Welt treten, den Rahmen als ihr Gefängnis mühelos hinter sich lassend, ob fromm, das lässt sich kaum feststellen, aber für immer frisch, unfassbar fröhlich und – vogelfrei. Gymnastik halt, aber mit der beängstigenden Aura einer schwarzen Messe.
Rathke, einst Direktor des Frankfurter Kunstvereins, gilt vielen als der Wols-Experte schlechthin, und seit Ende der 1960er Jahre konsultieren ihn Sammler, wenn sie Zweifel an der Echtheit ihres geplanten Neuerwerbs hegen: Gut möglich, dass es bei seiner Verpflichtung als Kurator exakt um diese vertraulichen Kontakte ging, ohne die es schwer fällt, die sehr empfindlichen und sehr verstreuten Relikte eines prekären Künstlerdaseins als Leihgabe für eine Ausstellung einzuwerben. Von der Hängung ist er die Sache konventionell, nein: stockkonservativ angegangen. Eine eigene These hat er nicht, stattdessen wiederholt Rathke gerne eine Sentenz von Wols: „Man soll sehen, was ist“, die klingt, als gäbe es den Blick an sich – oder mindestens als hätte Wols an den geglaubt. Das lässt sich ausschließen, wie man ohnehin den Worten, die der Künstler als Chamäleon bezeichnet hat, nicht ohne weiteres trauen sollte: Der Blick und das Sehen kennen in ihrer Aphoristik sehr viele Gestalten, und die vorzüglichste ist die des Betrachtens „mit geschlossenen Augen“. Der Blick geht ins Innere.
Aber das ist, für diesmal, unerheblich. Denn nie wird eine Hängung den Bildern ihre intellektuelle Schärfe rauben können. Und dafür, dass sie ihre sinnliche Gewalt entfalten, der sich kein Sehender entziehen kann, reicht es schon, sie zu zeigen, endlich einmal, und sie anzuschauen und sich ihnen hinzugeben – statt sie weiter zu verdrängen.
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