Auf der Straße: Herr Udo läuft
Seit zwei Monaten lebt der Nigerianer Asuquo Okono Udo obdachlos in Hamburg. Er hat kein Geld für Essen, doch arbeiten darf er nicht.
HAMBURG taz | Seine Gebote hat sich Asuquo Okono Udo selbst geschrieben. Es sind Überlebensregeln.
Eins. Wenig trinken. So hält man es länger draußen aus, ohne in Cafés gehen zu müssen.
Zwei. Menschen finden, vor allem die Christen. Sie können helfen.
Drei. Nicht stehen bleiben. Nicht krank werden. Immer weiter laufen.
Udos Schritte sind zügig und gleichmäßig, von morgens bis abends. Er marschiert, durch die uringetränke Luft an der Bahnhofsfassade, über die Brücke mit den vielen Fahrspuren. Vorbei an den Schaufensterpuppen, den beleuchteten Damenschuhen und an den Mädchen, die in ihren Pommestüten stochern.
Die Henkel der Plastiktüte wechselt er von einer Hand zur anderen. In Hamburg kennt er seine Wege. Jeder Tag ist gleich. Fünf Wochen ist es jetzt schon her, dass sie im Bezirksamt Mitte seinen Pass stempelten. Den „Titolo di viaggio per stranieri“. Den Fremdenpass. Seitdem läuft er durch die Stadt.
Asuquo Okono Udo ist 48 Jahre alt. In den vergangenen zwei Jahren lebte er in Italien, in einem Aufnahmezentrum für Flüchtlinge. Im Winter gaben die Beamten ihm und allen anderen Bewohnern seines Hauses 500 Euro und einen Pass aus grünem Leder. Geht nach Deutschland oder Frankreich, sagten sie. Udo ging.
Doch in den deutschen Städten, das spürte er schnell, sind die Gesetze kompliziert. Auch wenn er in Europa reisen darf, hat er nicht dieselben Rechte wie ein Europäer. Er stammt aus Nigeria, er darf hier nicht arbeiten.
Von seinen 500 Euro hat er das Ticket bezahlt und die ersten zwölf Nächte in einem Hamburger Hostel. Jetzt hat er kein Geld mehr, um sich etwas zu essen zu kaufen. Trotzdem kann ihm das Amt nicht helfen. Für ihn gibt es keine Unterkunft und auch keine Krankenversicherung.
So lebt Udo, wie einige hundert andere Afrikaner, denen italienische Behörden Anfang dieses Jahres Reisepapiere gaben, auf Hamburgs Straßen. Als lebendiges Druckmittel der italienischen Regierung, um von Nordeuropa mehr Geld für die Flüchtlinge zu bekommen. Und als Ballast für den Hamburger SPD-Sozialsenator Detlef Scheele, der den neuen Obdachlosen nichts zahlen will.
Vor dem alten Hafenkrankenhaus stehen die Männer an der Mauer und sie hocken auf den Steinstufen. Um zwei Uhr öffnet die Tür. Udo sieht mittlerweile anders aus als der Mann auf seinem Passbild. Der trägt eine blaue Krawatte, einen schwarzen Anzug, hat einen wachen Blick.
Udos Jacke ist aus weißem Plastik, der Kragen ist schmutzig. Feine, rote Adern durchziehen seine Augen. Auf der Tüte steht: „Erstmal zu Penny“. Früher, in Nigeria, war er Journalist. In Libyen verlegte er Fließen. In Deutschland steht er für Mahlzeiten an.
Die Luft im Keller ist dünn, der scharfe Geruch vieler Körper liegt über dem Flur. Am Ende der Schlange steht ein junger Mann mit Stoppelbart und tätowiertem Nacken. Eine Tasse und einen Löffel drückt er jedem in die Hand. Den alten Weißen, mit den grauen Bärten und Rollkoffern, und den jungen Schwarzen, die Kappen tragen und Kapuzenpullis – seit Februar sieht so mehr als die Hälfte seiner Gäste aus. Jeder einen Teller mit Reis und einen mit kleingehacktem Blattsalat. Dazu Bananen. Udo nimmt zwei. Nacheinander isst er sie auf.
„Kleiderkammer eight and nine“, ruft der Tätowierte. Kwedgo, 25 Jahre alt, geboren in Ghana, blickt auf den schmalen Zettel in seiner Hand und steht auf. Auch er war in Libyen, als dort im Frühling 2011 der Aufstand gegen Staatschef Muammar al-Gaddafi losging. Gaddafi bezahlte damals schwarze Afrikaner für den Kampf gegen das Volk.
Die Rebellen hatten sie anschließend in Generalverdacht, als Söldner für das Regime getötet zu haben – und rächten sich. Von denen, die damals flohen, blieben rund 60.000 Menschen in italienischen Unterkünften. So lange, bis diese geräumt wurden.
Nieselregen. Kwedgo schläft draußen seit Anfang der Woche. Sein Haar ist lockig, der Pulli lang und sandfarben, die Plastiktüte violett. Das Winternotprogramm für Wohnungslose ist vorbei, in der Unterkunft gibt es keinen Platz mehr. Er musste gehen, genauso wie Asuquo Okono Udo und 150 andere, die aus Italien kamen.
Vor der Tür stehen immer noch Leute an, als Udo gegessen hat. Junge Männer sitzen auf Bänken vor dem Haus, die Köpfe gesenkt. Einer geht umher und beobachtet dabei seine Füße. Ein anderer liegt, den Arm aufgestützt, auf den Holzlatten und schaut herüber. Aus einem Lautsprecher quäkt leise Musik. Udo sieht in seinen Augen, dass etwas nicht stimmt.
Einem baumlangen Kerl haben sie einen Zettel gegeben, durchweicht und zerknittert zieht er ihn aus der Tasche: „Krankenmobil“ steht darauf und die Wochentage, mit Kugelschreiber: „Montag, Monday, Dienstag, Tuesday“. Udo braucht keinen Arzt. Er ist gesund, er kann laufen. Aber Udo schläft auch nicht draußen. Er hat Menschen gefunden.
Raus nach Billstedt, zum afrikanischen Laden. Udo sieht den Bruder zwischen Glitzerkettchen und Shampooflaschen. Es riecht nach getrocknetem Fisch, die Bananenkisten sind voll davon. In den Regalen liegen Reisbeutel, der Laptop spielt Klaviermusik. Asempa 94.7, Radio aus Ghana.
„Wenn wir sehen, dass ein Gemeindemitglied in Not ist, dann helfen wir ihm.“ Die Stimme des Bruders ist sanft und leise, sein Blick ist schnell. Drei Frauen warten, eine mit einem schweren Beutel Maispulver im Arm. Jetzt kümmert er sich um die Kasse. Manchmal kümmert er sich um Udo.
Das Monatsticket für die Bahn. Ein Essen, wenn sie hinten gekocht haben. Udo kommt her, um zu schwatzen. Um die Erinnerungen zu vergessen.
Aisha. Sie Muslima, er Christ. Liebe. Der Brautpreis, den er zahlen wollte, war ihrer Familie zu niedrig. Damit fing alles an. Heute ist der Jüngste neun, der Älteste sechzehn, das Mädchen drei Jahre jünger. Udo ruft sie zweimal in der Woche an. Er kann erst zurück, wenn er etwas aufgebaut hat. Kapital.
Als Udo die Ladentür schließt, sagt er: „Danke.“
Zwischen Schmuckankauf und Handyladen sind alle Wände rot gestrichen. Im Wettbüro sitzen Männer auf Barhockern und einige hinten auf den Stühlen. Einer rafft seinen schwarze Plastiksack zusammen, ein anderer hat den Kopf auf die Schulter gelegt. Hier ist es trocken. Udo weiß, dass viele Afrikaner so ihre Tage verbringen. Er will hier nicht stehen bleiben.
Schritt für Schritt, die Tüte von Hand zu Hand. Den Jungfernstieg entlang, den Prachtboulevard der Stadt, bis zum Alsterhaus. Darin, durch das Labyrinth aus Parfum, Flakons aus Glas, Lippenstifte. Die Damen tragen Blazer und Papierstreifen zwischen den Fingern, die Herren haben ihre Augenbrauen gezupft. Udo beachten sie nicht. Beim Aufzug drückt er gleich beide Tasten, 4. Stock, Herrentoilette. Und wieder abwärts im Spiegelkasten aus Marmor.
Nebenan, hinter Glas, führt eine gläserne Treppe zu den weißen Computern. Gegenüber entspringt die Alsterfontäne. „Internetcafé“, sagt Udo und betritt den Apple Store. Er stellt seine Tüte neben einen Bildschirm: Facebook. Die Verkäufer machen ihm keinen Ärger, wenn er hier die Nachmittage verbringt.
Im Dämmerlicht strahlen die Inschriften der Reeperbahn heller als am Tag. Dass Udo hier einen Schlafplatz gefunden hat, verdankt er einem Spaziergang vor vier Wochen. Damals traf er auf der Straße Demonstranten, Flüchtlingsaktivisten.
In ihrem Kulturzentrum holt er sich jetzt ein Glas Leitungswasser vom Tresen, setzt sich an einen Tisch und sagt Sätze wie: „Wir können die Regierung nicht bekämpfen, wir können sie nur überzeugen.“ Sie nennen ihn hier Udo, als sei es ein deutscher Männervorname.
Auf den Ledersofas sitzen junge Frauen, die Zigaretten rauchen und Spezi trinken. Udos Schlafsack liegt zusammengerollt neben ihnen. Er hat Glück. Um Mitternacht werden die Leute gegangen sein, dann wird er schlafen können. Kwengo, der junge Mann vom Mittagessen, wird zur selben Zeit am Hauptbahnhof sein. Die Arme verschränkt, die Tüte zwischen den Füßen. Und versuchen, im Stehen die Augen zu schließen.
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