Gerbrauchsanweisung 1. Mai in Hamburg: Vier Bier für ein Hallelujah
Der Start des KirchentagS geht nahtlos in die traditionellen Maikrawalle in Hamburgs Schanzenviertel über. Ein kleiner Überblick.
Fischmarkt, Der
Ob’s wegen Petrus und seiner Seelenfischer-Kollegen ist? Jedenfalls beginnt der Kirchentag auf dem Altonaer Fischmarkt. Eine eher schwache Anspielung, denn die backsteinerne Fischauktionshalle ist seit Jahrzehnten eine Eventlocation. Und auf dem Fischmarkt gibt es schon lange Zimmerpflanzen und Bananen; vor ein paar Monaten hat der letzte Hamburger Hochseefischer, der hier seinen Fang frisch vom Kutter verkaufte, die Segel gestrichen.
Schon bevor hier mit Blick auf die Docks von Blohm & Voss einer der vier Eröffnungsgottesdienste „mit skandinavischer Note“ beginnt (17 Uhr), loten an selber Stelle Kirchen und Gewerkschaften ihre Gemeinsamkeiten aus, Motto „Soviel Gerechtigkeit du brauchst“.
Es ist schließlich der 1. Mai, Kampftag der Arbeiterklasse und ihrer vermeintlichen wie tatsächlichen Alliierten, vom DGB über den „Schwarzen Block“ bis zum neuen Prekariat. Natürlich haben sie alle ihre eigenen Maidemos. Einig ist man sich in Hamburg nur darüber, dass der 1. Mai im Schanzenviertel endet, und zwar mit brennenden Barrikaden, Wasserwerfern und fliegenden Flaschen, bitteschön.
Hafenstraße, Die
Den Weg dorthin kann man vom Fischmarkt gut zu Fuß machen – vorbei an den Häusern der St. Pauli Hafenstraße. In prominentester Lage, hoch am Geesthang überm Elbufer, gehören sie immer noch zu den Sehenswürdigkeiten, eine Pflicht der Anschauung praktischen Widerstands. Leicht zu identifizieren: Gründerzeithäuser im autonomen Chic, neu bewohnt. Ihr sichtbarstes Zeichen ist allerdings eines ex negativo: Die Hafenstraßenhäuser, die in den Achtzigern erkämpft wurden, sehen nicht so gentrifiziert, farblos, kalt aus.
Schon vor 18 Jahren war diese Häuserzeile auf dem Kirchentag in Hamburg die für ChristInnen attraktivste. Sie war ein Zeugnisband der Rebellion gegen eine Stadt, die immer teurer wird. Herzlich willkommen – sie sind noch da. Und somit der Beweis, dass das Kämpfen für das Bessere sich lohnt.
Rote Flora, Die
Von den Hafenstraßen-Häusern geht es quer durch St. Pauli zum Neuen Pferdemarkt.
Um 11 Uhr beginnt die zentrale Hamburger Demonstration des DGB auf dem Spielbudenplatz an der Reeperbahn. Es geht durch die Hafenstraße bis zur Abschlusskundgebung um 12 Uhr auf dem Fischmarkt. Dort geht es nahtlos weiter um 13 Uhr mit der Brückenveranstaltung zum Kirchentag unter dem Motto „Soviel Gerechtigkeit du brauchst. Kirche und Gewerkschaften … da geht was zusammen“.
Mit der DGB-Demo, aber sorgsam abgetrennt, läuft ein Klassenkämpferischer/antikapitalistischer (vulgo: schwarzer) Block. Dazu trifft man sich schon vor den Gewerkschaftern um 10.30 auf dem Spielbudenplatz.
Eigene DGB-Demonstrationen haben die Bezirke Harburg und Bergedorf. In Harburg geht's um 10 Uhr auf dem Harburger Marktplatz los, bei der Kundgebung um 11 Uhr beim Kulturzentrum Rieckhof spricht Heiner Geißler (CDU/Attac). Ebenfalls um 10 Uhr geht es in Bergedorf ab Lohbrügger Markt. Kundgebung ist um 11 Uhr mit Kurzbeiträgen der Initiativen „Frackingfreies Hamburg“ und „Unser Wasser“.
Die jüngste in der Maidemo-Familie ist der Euromayday. Um 12 Uhr geht es von den vom Abriss bedrohten „Esso-Häusern“ am Spielbudenplatz über Landungsbrücken und Stübenplatz im zur Gentrifizierung freigegebenen Multikulti-Stadtteil Wilhelmsburg und schließlich zur frisch eröffneten Internationalen Gartenschau. Der Ausflug in den Hamburger Süden ist als Fahrradtour angelegt, kann aber auch mit öffentlichem Verkehr bewältigt werden.
Das Finale des Hamburger 1. Mai ist die Revolutionäre 1.-Mai-Demo unter dem Motto „Klasse gegen Klasse“. Sie beginnt um 18 Uhr an der U-Bahn-Station Feldstraße. Es wird geböllert und mutmaßlich auch geknüppelt. Häufig kommt der Demozug nur ein paar hundert Meter weit, bis ins Schanzenviertel, wo man dann umstandslos zum gemütlichen Barrikadenbrennen übergeht.
Hier beginnt das Schanzenviertel, oder wie man kurz sagt: „die Schanze“, winzig klein, zwischen Stresemannstraße und Schanzenstraße gelegen; einst Schlachthofarbeiter-, dann Ausländerviertel, in den Achtzigern Alternativquartier und Geburtsort der anarcho-christlichen Jugendbewegung „Jesus Freaks“, heute durchgentrifziertes Bessserverdienerareal mit Szenechic.
Zentrale Achse ist ein Boulevard namens Schulterblatt, einst eine Prachtstraße für die niederen Stände. Hier liegt auch der Kristallisationspunkt aller Bewegung: die Rote Flora. Der schmutziggelbe Überrest eines alten Varietétheaters, Zentrum der autonomen Linken, ist seit 1989 besetzt und laut Eigendarstellung „unverträglich“. Daran hat auch nichts geändert, dass die Stadt die Problemimmobilie 2001 an einen Immobilienspekulanten verscherbelte.
Der schliddert inzwischen am Rand der Pleite und würde die Ruine im inzwischen aufgeschickten Viertel nur zu gern mit Gewinn wieder abstoßen. Kann er aber nicht, weil im Grundbuch steht, dass es Stadtteilkulturzentrum bleiben muss. Und so finden hier weiterhin politische Veranstaltungen, Konzerte und vor allem jede Menge Benefizpartys zur Finanzierung linker Aktivitäten statt.
Und natürlich endlose Plenumssitzungen zu allem und jedem, kollektives Motorradschrauben, Fahrradbasteln oder die vegane Volksküche. Lecker geworden? Reingehen geht aber nicht – auch der Seiteneingang bleibt am 1. Mai geschlossen. Zu groß das Risiko, dass, wenn nachts die Stimmung steigt, verpeilte Krawallos sich nach Steinwurf ins vermeintliche Randaliererrefugium zurückziehen wollen – und der Polizei einen perfekten Anlass liefern, ihnen in diese Ordnungshüter-no-go-Zone notfalls mit Gewalt zu folgen.
Piazza, Die
Der wahre Feind sitzt aber gegenüber der Flora. Seit die Stadt Parkbuchten für Gastronomieflächen plattgemacht und das Label „Piazza“ drübergeschrieben hat, ist dieses Stück Schulterblatt ab sieben Grad Celsius allabendlich übervoll, wochentags mit Vorstädtern, am Wochenende gern mit Dänen. Man steht draußen, trinkt Bier und lässt sich beim Anblick der abgerockten „Flora“ Schauer über den Rücken laufen.
Die Demarkationslinie bilden ins Pflaster eingelassene Granitquader, auf denen „A | H“ steht. Das steht nicht für „Autonome“ und „Hedonisten“, sondern für „Altona“ und „Hamburg“. Alte Schanzenviertel-Bewohner sprechen despektierlich vom Galão-Strich, was einen Hinweis auf die „Schuldigen“ an diesem Kontakthof für Jungerwachsene gibt: In den achtziger Jahren schafften Bäcker aus dem nahen Portugiesenviertel am Hafen den Sprung in die Schanze und rollten mit ihrer Version von Milchkaffee und Gebäck (Pastéis) die Gastronomie des Viertels auf.
Krawall, Der
Sicher ist nur: Er kommt. Warum, das weiß niemand mehr so ganz genau. Mittlerweile scheint er dem Ort eingeschrieben, bei wechselndem Personal. Waren es vor Jahrzehnten noch die Autonomen aus dem Stadtteil selbst, für die der 1. Mai ein alljährlicher Anlass für eine Kraftprobe mit der Polizei war, sieht man inzwischen gestandene Aktivisten der Roten Flora im Verein mit genervten Anwohnern brennende Barrikaden löschen.
In den letzten Jahren waren es wohl vor allem „erlebnisorientierte Jugendliche“, die sich das Randaleritual zu eigen gemacht hatten. Strittig ist nur die Deutung: Während die autonomen Cheftheoretiker die Ausbrüche als „politisch“ adeln wollten, brüllen viele Anwohner mittlerweile nur noch: „Haut ab! Zündet doch eure eigenen Vorstädte an!“
Der Ablauf ist so: Am frühen Abend wird ein Lagerfeuer vor der Flora angezündet, irgendwann kommt die Polizei mit Wasserwerfern vom Pferdemarkt das Schulterblatt hoch, spritzt, knüppelt – und wird mit einem Hagel aus Steinen und Flaschen empfangen. Wer jetzt nicht weg ist, ist mittendrin und wird es eine Zeit lang bleiben, denn das Viertel ist abgeriegelt. Am besten, man gesellt sich zu den Gaffern auf der Piazza, die es sich schon auf alten Sofas bequem gemacht haben, kauft sich ein Bier und gafft mit.
Jan Kahlcke, 45, ist Redaktionsleiter der taz.nord
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Verzicht auf Pädagogen in Bremer Kitas
Der Gärtner und die Yogalehrerin sollen einspringen
Grüne Parteitagsbeschlüsse
Gerade noch mal abgeräumt