Rock-Avantgarde: Der Arsch des Universums
Gleich zwei Mal spielt Thurston Moore, eines der Gesichter der New Yorker Rock-Avantgarde, in Hamburg – in einer Zeit, da er sich auch schon mal als Ehebrecher beschimpfen lassen muss.
Ein Thurston Moore muss, wie ein Lothar Matthäus, keine Interviews geben. Es wird auch so über ihn geschrieben – mehr als ihm in den letzten Monaten lieb war. Denn zu tun hat die aktuelle Aufmerksamkeit nichts mit der Musik, seiner neuen Band Chelsea Light Moving oder irgendeiner anderen kreativen/künstlerischen Aktivität. Thema sind noch nicht mal Sonic Youth: Seit der Trennung des öffentlich gern als „First Couple of Indie Rock“ und „Punk Rock Royalty“ gegeißelten Ehepaars Kim Gordon/Thurston Moore ist die Zukunft der über lange Jahre gemeinsamen Band ungewiss.
Doch diese Trennung beschäftigt die Medien heute mehr denn je: Für den aktuellen Shitstorm lieferte Kim Gordon höchstpersönlich die Munition. In einem Interview mit der amerikanischen Elle verriet sie im Mai, dass hinter allem eine andere Frau stecke. „Thurston machte einfach damit weiter, dieses ganze Doppelleben mit ihr zu führen“, erinnert sich Gordon. „Er erschien wirklich wie eine verlorene Seele.“
Der Rolling Stone fordert im ersten Artikel über Chelsea Light Moving einen Kommentar von Moore – und bekommt prompt die zu erwartende Abfuhr: „Darüber spreche ich nicht. Es gibt keinen einzelnen Aspekt, über den ich jemals sprechen werde.“
Zur Hatz bläst dafür das Online-Magazin Jezebel.com: Hier werden die einzelnen Hinweise aus Gordons Elle-Interview destilliert, analysiert und interpretiert – blitzschnell steht die Schuldige fest. Nach alter Boulevard-Manier verpackt die Headline den Jagdaufruf in der juristisch wasserdichten Frageform: „Is This the Woman Who Broke Up Kim Gordon and Thurston Moore?“ Nicht blenden ließen sich die aufrechteren Feministinnen unter den Jezebel-Leserinnen, wortmächtig beschwerten sie sich über die Zurschaustellung jener Frau als Ehe zerstörende Schlampe; in Amerika spricht man in diesem wie in anderen Zusammenhängen gern vom „Slut-shaming“.
Sollten wir überhaupt noch erwähnen, dass Moores Neue beim ersten Video von Chelsea Light Moving Regie geführt hat? Es wirkt zumindest etwas blöd, wie er, auf den Clip angesprochen, gegenüber dem Rolling Stone herumeiert. Der Pro-Occupy-Song „Lip“ besticht durch den Charme von lobotomisiertem Punk; der Refrain besteht aus einem mehrfachen „Fuck!“, die Catchphrase lautet „Get fucking mad/Too fucking bad“. Zur Bebilderung dient ein Zusammenschnitt von entsprechenden Aufnahmen: Aufstände und Polizeieinsätze und dazwischen immer wieder, farbverfremdet und bewusst dilettantisch gefilmt, die Band.
Zu der ist leider schon fast alles gesagt, zitiert man einen Festivalbesucher: „Joa, wie Sonic Youth, nur etwas langweiliger.“ Im Hintergrund ruft ein anderer: „Noch langweiliger?!“ Im Westwerk nun kann man der Band mit dem Namen des Umzugsunternehmens, das in den 1970ern die beiden Minimal-Music-Protagonisten Philip Glass und Steve Reich aus akuter Geldnot gründeten, mehr Liebe schenken. Thurston Moore kann sie brauchen!
Einen guten Monat später, am 10. August, zeigt er uns in Begleitung der mittlerweile achtzigjährigen Fluxus-Hexe Yoko Ono, wo der Frosch die Locken hat. Letztes Jahr haben beide – zusammen mit Kim Gordon – eine EP gemacht, keine Ahnung, was sie diesmal treiben. Das Programm des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel, in dessen Rahmen die beiden, äh, „performen“, verspricht eine „wilde Kollision aus Songs, Poesie, Free-Rock und glossolalischer Ekstase“. Als Glossolalie beschreibt der Duden übrigens die Hervorbringung von fremdartigen Sprachlauten und Wortneubildungen, besonders in religiöser Ekstase.
Ebenfalls auf Kampnagel gibt sich dann am 22. August eine alte Bekannte Moores die Ehre: Lydia Lunch. In ihrem Schlepptau hat sie unter anderem Bob Bert, der wiederum früher bei Sonic Youth getrommelt hat (außerdem bei Pussy Galore, Action Swingers, Bewitched, Honeymoon Killers sowie gefühlt/gemittelt 100 anderen Bands).
Trotz der epochalen Zusammenarbeit mit Sonic Youth, dem Stück „Death Valley 69“ (1984), kann Lunch nicht wirklich als eine Weggefährtin Moores gelten. Sie weilte bereits mitten im Herzen der Bestie New York, als der ein Jahr ältere Junge aus Connecticut noch im Bummelzug anreiste, um sich bei seinem ersten Kurzbesuch die legendären Suicide anzusehen. Lunch war schon Ewigkeiten zuvor, als 13-Jährige, in NYC gelandet, nach eigenen Angaben lediglich mit einem kleinen roten Koffer und einem Wintermantel im Gepäck – und natürlich dem, was sie gern ihre „big fucking attitude“ nennt.
Ihren Namen verdankt Lydia Lunch angeblich dem Umstand, dass sie als junge Göre wiederholt den Dead Boys das Essen geklaut haben soll. In der Dokumentation „Punking Out“ über die Szene um das legendäre CBGB’s wird sie im fortgeschrittenen Alter von 17 interviewt. Die vollständige Abschrift:
„I’m here to see the Dead Boys“
Why?
„Because they’re great fucks!“
How do you know?
„Because I fucked them!“
Alles, was der notorische Hipster Moore schon immer gern gewesen wäre, war und ist Lydia Lunch. Die übrigens seit Jahren in Barcelona lebt und für New York nur noch böse Worte findet – „the fuckin’ asshole of the universe!“ Im Rahmen seiner Arbeit an dem Fotobuch „No Wave: Post-Punk. Underground. New York 1976–1980“ interviewte Moore vor einiger Zeit Lydia und bot sich an, falls sie noch mal ihre legendäre erste Band Teenage Jesus & The Jerks reanimieren wolle.
Sie wollte, konnte – und hat es einfach getan, sehr erfolgreich mit Moore am Bass und Weasel Walter an und in allem anderen. Letzteren wiederum bringt sie nun neben Bob Bert und Algis Kizys (Swans) mit nach Hamburg. Retrovirus nennen sie sich, und ja – DAS könnte was werden!
Chelsea Light Moving: Fr, 5. 7., Hamburg, Westwerk
Yoko Ono & Thurston Moore – An Evening of Musical Improvisation and Film: Sa, 10. 8., Hamburg, Kampnagel
Retrovirus: Do, 22. 8., Hamburg, Kampnagel
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