Nach dem Rekordhochwasser: Atlantis in der Altmark
Vor fünf Wochen brach bei Fischbeck der Deich. Während der Staat sich rar macht, läuft die private Hilfe gut. In ihre Häuser zurück können die Einwohner aber nicht.
FISCHBECK/KABELITZ taz | „Nee, ich bin nicht der Bürgermeister!“ Bodo Ladwig, grauer Bart, Brille, Wrangler, wehrt ab, brummt noch, „habe zu tun“, zündet sich eine Zigarette an und fegt in einem eingestaubten weinroten Golf davon. Ein entnervter Blick ist vorerst das Letzte, was vom ehrenamtlichen Bürgermeister von Fischbeck zu erhaschen ist. Das Bürgerhaus, ein stattlicher backsteinerner Bau, liegt verwaist in der Vormittagssonne, nur im improvisierten Waschsalon nebenan drehen sich leise die Trommeln.
Manchmal möchte Bodo Ladwig jetzt ein anderer sein, abhauen, keine Telefonate, keine Entscheidungen, keine Interviews. Und sich kneifen oder aufs Knie schlagen, um endlich aufzuwachen aus diesem Albtraum. Es ist von allem zu viel. Was dem 600-Einwohner-Dorf am Rande der Altmark im nördlichen Sachsen-Anhalt in der Nacht zum 10. Juni widerfahren ist, lässt sich nur mit den ganz großen Heimsuchungen vergleichen.
Der Deich, nur noch ein Haufen Brei, hielt dem Wasserdruck nicht mehr stand, und der Fluss, seit Jahrhunderten eingedeicht, ergoss sich Richtung Fischbeck. Das Dorf versank in nur einer Nacht wie ein altmärkisches Atlantis. Die Menschen konnten kaum mehr als ihre Haut retten.
Mit 2,69 Milliarden Euro hat Sachsen-Anhalt beim Juni-Hochwasser die höchste Schadenssummezu verzeichnen. Es folgen Sachsen(1,92 Mrd. Euro) und Bayern (1,31). Insgesamtbelaufensich die Schäden auf rund 6,68 Milliarden Euro. Das ergab eine erste Bilanz, die die Länder dem Bundesinnenministerium gemeldet haben. Dem Bund selbst sind Kosten in Höhevon1,48 Milliarden Euroentstanden. Allerdings sind das vorläufige Zahlen. Bei der Jahrhundertflut 2002 lag der Gesamtschaden bei rund 13 Milliarden Euro. (dpa)
Jetzt sind sie zurück. Stoisch schieben Männer mit freiem Oberkörper Karre auf Karre in die Container, wo sich mit dumpfem Gepolter ihr altes Leben verabschiedet. Die Tapete aus der Stube, die Dielen aus der Küche, die Lichtschalter, die Waschbecken, die Fenster sind Müll geworden. Fernseher, Kaffeemaschine, Kühlschrank, vom Grauschleier umhüllt, stehen abseits an der Straße. Das Wasser hat sich in Senken zurückgezogen, wo in der teerfarbenen Brühe Blasen aufsteigen. Hinterm Bürgerhaus ist so ein Pfuhl. Hier würde nicht mal Mückenbrut überleben. Mücken sind jedenfalls hier das geringste Problem.
Polizisten und Adventisten
Der rote Golf schießt wieder um die Ecke, Ladwig steigt aus, pumpt einen Kaffee aus der Kanne und setzt sich auf die wacklige Bank. Ein Hilfskonvoi aus Brandenburg soll jeden Augenblick eintreffen. Das mit der privaten Hilfe laufe gut, sagt Ladwig. Musiker aus Berlin, Polizisten aus Hessen, Adventisten und natürlich Feuerwehrleute – wer hier schon alles war. Und wer noch kommen wird.
Nur der Staat mache sich rar. Im Grunde genommen ist Bodo Ladwig, 59 Jahre, mit schwarzer Lederjacke und schwerer Uhr am Handgelenk, der Fleisch gewordene Staat. Und deswegen muss er sich manchmal verleugnen. Zwei Schultern, wenn auch kräftige, sind zu schmal für all das Elend.
Der Kreis? Das Land? Der Bund? Fehlanzeige. Ladwig will nicht lange palavern. „Hier muss einer sitzen!“ Einer mit Kompetenzen, der von morgens bis abends die Dinge koordiniert, die Schäden erfasst, die Geschädigten in Gruppen einteilt und der zumindest den Schwerstgeschädigten ohne viele Papierkram Geld in die Hand drückt. Ladwig stößt mit dem Finger wieder und wieder auf den Biertisch, dass er zu hüpfen beginnt.
Immerhin, die Verwaltungsgemeinschaft Schönhausen, zu der seine Dörfer gehören, habe bereits die Schäden der kommunalen Objekte – Schulen, Kindergärten, Verwaltungsgebäude, Feuerwehren – addiert, erzählt Ladwig. „114 Millionen Euro!“ Summen, die irgendwie nicht in diese beschauliche, fast karge Landschaft passen wollen. „Da ist noch keine Wirtschaft, da sind keine Privaten dabei.“
Ankündigungen! Nichts als Ankündigungen!
Und was macht Magdeburg? Berlin? Ankündigungen, nichts als Ankündigungen! „Die schicken alle Weile ein Infoblatt über zinsgünstige Kredite!“ Ladwig lacht bitter. Er befürchtet, dass sich die Ministerpräsidenten, die Landes- und Bundesminister und vorneweg die Kanzlerin in die Ferien verabschieden.
Danach beginnt der Wahlkampf, und spätestens im Herbst ist die zweite Jahrhundertflut binnen elf Jahren vergessen. Und seine Leute hocken hier in feuchten Buden und finden nachts nicht in den Schlaf. Und Bodo Ladwig guckt zu, wie sich einer nach dem anderen aus Fischbeck verabschiedet. Ein Bürgermeister ist doch kein Bestatter.
Ein schöner Sommertag heute, Schäfchenwolken zieren den Himmel, fünf Kilometer von hier, oberhalb des Deichbruchs, im Städtchen Jerichow feiern sie das Klostergartenfest. Ladwig sitzt schon wieder im Golf. Er selbst ist auch abgesoffen, „ich muss mich bei meiner Frau bedanken“, sagt er etwas förmlich. Er selbst komme zu nichts. An der Eberstation dreht er eine Extrarunde. Die Zuchteber, die habe man evakuieren können, doch der schneeweiße langgestreckte Bungalow, Wohn- und Bürohaus in einem, liegt zusammengesackt in der Sonne. Nagelneu und schon wieder tot.
Ein Storch schreckt auf. Ladwig zieht eine Staubfahne hinter sich her. Der Acker zeigt fingerdicke Risse, doch unter der Kruste steht das Grundwasser. Viele Keller werden noch lange unter Wasser stehen, prophezeit Ladwig und stoppt den Wagen. Zwei Raupenbagger stehen am offenen Deich, auf der anderen Elbseite erhebt sich die backsteinerne Silhouette der Stadt Tangermünde. Der Himmel ist weit, die Wiesen sind eben. Bald werden sie gemäht, sagt Ladwig, der im Hauptberuf bei der hiesigen Agrargenossenschaft arbeitet.
Neuer Deich, alte Linie
Die Bruchstelle am Deich ist mit einer Spundwand verschlossen, im Sand verwest ein mächtiger Karpfen. Die drei Kähne, die hier versenkt worden sind, um das Loch zu stopfen, liegen zerschnitten als Schrott. Nur eine Bugspitze habe man beiseitegelegt, Material für ein Mahnmal. Wenn die Fischbecker das wollen, schränkt Ladwig ein. Die Leute wollen jetzt vor allem eins – dass der Deich erneuert wird. Und sie wollen mitreden.
Deichbau ist Sache des Landes; bisher, sagt Ladwig, hatten die Anrainer wenig zu melden. Außerdem müsse der neue Deich tiefer im Binnenland verlaufen. So wie es früher schon einmal war. Dann würde auch der verfluchte Neunzig-Grad-Winkel aus der Deichlinie verschwinden, der Fischbeck zum Verhängnis wurde. Das Wasser drängte vor dem Knick, bis der Deich nachgab.
„Sollbruchstelle“ nennt Ladwig den Haken. Den Leuten müsse gesagt werden, wann der neue Deich steht. „Wir müssen den Leuten Sicherheit geben.“ Ladwig zieht kurz an der Kippe. „Sonst ziehen sie alle weg.“
Familie Kolley ist erst vor fünf Jahren nach Kabelitz gezogen. Andreas Kolley empfängt vorm Haus und erzählt kurz die Tragödie vor der Tragödie. Seine Eltern, beide 71 Jahre alt, wollten hier ihre letzten Jahre verbringen, der jüngste Bruder wollte sie betreuen. Doch überraschend starb er vor einem Jahr und die Eltern wollten wieder fort.
„Das Haus hat Seele“
Kommt gar nicht in Frage, sagte Andreas Kolley und zog bei ihnen ein. „Das Haus hat Seele“, glaubt er. Der Kachelofen, der kleine Garten, die winzige Veranda, wo einst die Poststelle war. Ein guter Platz für die letzten Runden auf Erden. Fünf Kilometer ist die Elbe entfernt. Wer hätte gedacht, dass sie einmal durch die Wohnzimmer fließt?
Kolley zeigt auf den Schuttberg, „54 Jahre Ehe liegen hier“, und schüttelt den Kopf. „Es ist ein Wahnsinn.“ Das wird er heute noch oft sagen. Es ist seine Art, sich die Last von der Seele zu reden. Kolley, 49, ein Kumpeltyp, mit dem man schnell per Du ist, verströmt eine Lässigkeit, die auffällt. Die Stimmung ist gut, zumindest tagsüber. Die Nächte in der Gartenlaube sind weniger entspannt. Das Wasser drängt sich mit Macht in die Träume.
Und dann ist da noch die Frage nach dem Geld. Hausrat- und Gebäudeversicherung zahlen nicht, so viel ist klar. Ein Versicherer bietet als Trostpflaster 500 Euro an. Kolley kann darüber nicht mal lachen. Das Haus, äußerlich wieder halbwegs intakt, ist drinnen nichts als eine Höhle. Eine Handwerkertruppe, vier Freiwillige, arbeitet in der Küche, der Mörtel leuchtet, im Wohnzimmer läuft der Trockner. „In der Küche werden wir den Kachelofen beerdigen“, sagt Marianne Kolley bestimmt, gewissermaßen ein Ehrengrab.
Vier Helfer in der Küche
Marianne Kolley wirkt gefasst, manchmal lacht sie, auch über sich selbst. Als die Wasser kamen, habe sie den Tisch noch weiß gedeckt und Blumen darauf gestellt, als käme hoher Besuch. Sie lacht. „So verrückt war ich!“ Es sind auch die Helfer, die wortlos und unentgeltlich vor sich hin arbeiten, die Halt geben. Drei kommen aus dem nahen Genthin, Norbert Baatz ist vor drei Wochen aus Berlin angereist und arbeitet sich nun von Baustelle zu Baustelle. Baatz, 65 Jahre alt, ein drahtiger Typ, wirkt deutlich jünger.
In drei Wochen kann man so manche Beobachtung machen. Baatz regt sich über die Ungleichheit auf. Die Verteilung der Spenden, der Umgang mit den Geschädigten, die Verpflegung der Helfer – das alles müsste verbessert werden. Mahlzeiten für die Familien und Helfer gebe es jetzt nur noch im Nachbarort Fischbeck. Warum? Bodo Ladwig mit seinem Krisenmanagement kommt nicht besonders gut weg. Die Kabelitzer haben das Gefühl, dass den Fischbeckern das Hemd näher ist als der Rock. Der Unmut wächst. Zur selben Stunde wartet im Dorfgemeinschaftshaus ein Anwalt aus Hamburg auf potenzielle Kunden. Es geht um Sammelklagen, Versicherungen und Schadensregulierung. Ein weites Feld für umtriebige Juristen.
Immerhin, das Haus der Kolleys wird überleben. Andere haben weniger Glück. Der Fischer Gernot Quaschny aus dem Nachbardorf Hohengöhren ist während der Flut zum Helden geworden. Selbst komplett abgesoffen, versorgte er mit seinem Boot die Dörfer, die zu Inseln geworden waren, mit dem Nötigsten, half den Deich mit wagemutigen Aktionen sichern und rettete Rehe. Inzwischen ist klar, dass der 50-Jährige seine Existenz verloren hat, im Fluss und vor allem in den Seen ringsum ist für Jahre alles tot. Doch nicht nur das. Gestern wurde sein Haus abgerissen. Quaschny, ohne Auskommen und obdachlos, hockte auf dem Trümmerhaufen wie ein neuer Hiob. Am Himmel zogen Schäfchenwolken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!