Grenzverkehr: Vorbei an Lama und Kamel
Die umstrittene Oder-Neiße-Grenze ist quasi verschwunden. Nachforschungen auf der Fahrt von Swinemünde nach Görlitz.
Swinemünde/Swinoujscie „Swinemünde … ein unschönes Nest“, schrieb Theodor Fontane 1827. Der Ort entwickelte sich des ungeachtet zum beliebtesten Seebad der Berliner – und zum Marinestandort. Vor ein paar Jahren noch musste man von Usedom aus an der Grenze mit dem Taxi in ein polnisches Pferdefuhrwerk umsteigen, das einen an die riesige Swinemünder Strandpromenade brachte, wo es von Händlern mit Billigware, Hütchenspielern und Abschleppern für die Bordelle der Stadt wimmelte. Auch heute ist die Promenade laut und grell, aber nun gibt es viele gute Hotels, leider alles voll mit „Frühbuchern“.
Pasewalk Rot wie ein Leuchtturm im Sturm leuchtet ein Wort durch die Nacht: HOTEL. Über dem Frühstücksbuffet steht: „Es ist verboten zu rauchen oder den Bullen beim Besamen durch lautes Lachen zu erschrecken.“ (Besame mucho … „Küsse mich“, der spanische Schlager.) Wir haben in einer sanierten Besamungsanstalt bei Pasewalk geschlafen. Es gibt ein Kegelzentrum, einen Streichelzoo mit Lama, eine Eisenbahn auf Minischienen. Menschenleer.
Durch schillernde Alleen, Birnen-, Kirschen-, Apfelbäume, Pappeln, Kastanien, Eichen, Ulmen, und verpennte Dörfer. Graugänse, Kiebitze, weiße Reiher, jede Menge Enten rasten auf wieder versumpfenden Weiden.
Löcknitz Im Dreißigjährigen Krieg wurde Vorpommern gleich mehrfach verwüstet. Ein Fluchtturm – der Rest einer Slawenburg namens „Lokenitza“, ist heute berühmt für Fledermäuse aller Arten. Im „Kaffee Traum“ daneben geht das Gespräch ums Angeln: „Na, Paulchen, was macht der Fisch?“ „Der schwimmt noch.“
Stettin/Szczecin Die Hauptstadt der Woiwodschaft Westpommern wandelt sich grad von der Arbeits- zur Freizeitmetropole. Die Werftindustrie ist beinahe abgewickelt, Hafenanlagen werden komprimiert – dafür der „Maritim-Spaß“ ausgebaut. Touristen kommen aus unterschiedlichen Motiven, erfahren wir in einem Restaurant am Hafen: Franzosen aus sentimentalen Gründen (Napoleon), Deutsche wegen der billigen Zahnkliniken. Die Norweger lieben Golfplätze. Dänen und Schweden Campingplätze. Italiener und Spanier besuchen Söhne oder Brüder hier auf einem Nato-Stützpunkt. Die Russen kommen zum Angeln. Und die Finnen – wegen des Wodkas. Vom Turm des Schlosses der Herzöge von Pommern aus stellen wir uns vor, wie Stettins Maritimspaß an und auf der Oder aussehen könnte. http://zamek.%3cbr/%3eszczecin.pl/index.php%3flang%3ddehttp://zamek.%3cbr/%3eszczecin.pl/index.php%3flang%3dde
Gartz Das Ackerbürger-Museum im Torwärterhaus entpuppt sich als eine Zusammenstellung von neuen Erzählungen über alte Kriege, die diese schöne Gegend immer wieder verwüsteten. An der Kasse kaufen wir ein Glas selbst gemachtes Holunderblütengelee, von dem wir später bedauern, nicht 10 gekauft zu haben. Die Besitzerin des kleinen Imbisses an der 1926 eingestürzten Oderbrücke kennt den besten Badeplatz: „… noch immer die gleiche Stelle hinterm Sportplatz.“
Schwedt An der PCK-Raffinerie führt eine kilometerlange Magistrale vorbei – sie endet vor dem Eingang des Schwedter Theaters:
Die Klänge von „Tränen lügen nicht“, russischer Akzent, ziehen uns quer über den Theater-Parkplatz zu einem Plätzchen unter Platanen, auf dem dicke Frauen begeistert und elegant umeinander herum tanzen. „Die große Stadt lockt mit ihrem Glanz, mit schönen Frau’n, mit Musik und Tanz, es ist nie zu spät, komm entscheide dich, dreh dich mal um, Tränen lügen nicht.“ Es findet wieder ein „Kreisintegrationsfest“ statt. Dahinter an der Uferpromenade steht das Wahrzeichen von Schwedt: eine Meerjungfrau. Sie hält ein Kind, dem sie Schwimmen beibringt. Hier siedelte der brandenburgische Kurfürst 1685 20.000 protestantische Vertriebene aus Frankreich, vornehmlich Tabakbauern, an, heute nennt sich das Gebiet hinter den Bühnen „Hugenottenpark“.
Über die Brücke gelangen wir nach Krajnik Dolny. Die schöne Uferstraße führt zum „Tal der Liebe“ (Dolina Milosci) – Teil des deutsch-polnischen Projekts „Europäischer Hugenottenpark“. Die Alleen in Polen leuchten dunkelgrüner, weil den Bäumen untenrum nicht ständig die Zweige gekappt werden, wie in Brandenburg und Berlin. Das Tal der Liebe ist eine Anhöhe.
Auf der breiten Autobahn, die sandig ist, weil sie keiner fegt, wo das Abendlicht so satt und sanft scheint, sind außer uns und anderen Autos auch viele Radfahrer mit Angeln unterwegs. Golden leuchtende Wände aus aufeinandergestapelten Honiggläsern entzücken am Rande. Eimer voller gelber Pfifferlinge und Pflücker warten auf Kundschaft oder um von ihren Frauen abgeholt zu werden … Man kann es nicht wissen.
Criewen Im renovierten Schloss der Arnims, inmitten eines von Lenné gestalteten Parks, befindet sich ein „deutsch-polnisches Umweltbildungszentrum“. In den Stallungen ist das Nationalpark-Museum untergebracht. Mit Aquarien und Mikroskopen. Worum es beim Nationalpark Unteres Odertal geht, klärt ein Film: Große Gebiete sollen „der Natur zurückgeben“ werden. Auf den im Winter und Frühjahr überfluteten Flächen halten sich Millionen von Zugvögeln auf – und drumherum hocken Tausende von „Birdwatchern“. http://www.nationalpark-unteres-odertal.de/orte_und_wege/nationalparkgemeinden/criewen
Hohenwutzen Während des Hochwassers 1997, als der Deich unterspült wurde, verhinderten Hunderte von Bundeswehrsoldaten und Helfer mit Sandsäcken eine „Flutkatastrophe“. Vom Gartencafé hinter dem Deich aus koordinierte damals „Deichgraf“ Platzeck die Rettungsaktionen. Wir kehren im knallroten „Bahnhof Nr. 1“ ein: Bis 1965 verkehrte hier ein Zug, der über die Oderbrücke bis zu einer Papierfabrik am anderen Ufer führte. In deren Ruinen heute das „Oder-Center“, ein großer Polenmarkt, untergekommen ist. Ein alter Mann kann sich noch daran erinnern, wie „die Russen“ die Fabrik einnahmen und über den Fluss kamen. „Als Erstes befahlen sie uns, alle Leichen zu beerdigen. Wir bekamen was zu Essen dafür. Das war so wie ABM heute.“
Immer wieder begegnen uns an Häusern oder in Kurven aufgestellte Transparente: „Das Oderbruch ist nicht der Mülleimer von Vattenfall“, „Für eine Umgehungsstraße“ oder „Gegen eine Riesenschweinemastanlage“.
Golzow Einsam blinken Fernseher durch die Nacht. Die Schatten der Alleen machen gierige Finger, verfolgen uns durch das Oderbruch. Im 18. Jahrhundert wurde die Auenlandschaft auf Anordnung von Friedrich II. trockengelegt. Dabei wurden die sich ständig verändernden Sümpfe in geometrisch angelegtes Siedlungsland umgewandelt. Heute geht es dort eher um „Renaturalisierung“. In Golzow stemmt sich eine der modernsten Großlandwirtschaften der „Kulturlandvernichtung“ entgegen: Die einstige Vorzeige-LPG und jetzige Landwirtschaft Golzow GmbH & Co KG ist der zweitgrößte EU-Subventionsempfänger in Brandenburg. Die längste Filmdokumentation der Welt, „Die Kinder von Golzow“, kann man sich im Gemeindezentrum ansehen. Das Gasthaus mit Pension „Wagner“ hat noch spätabends auf. Blumen, Landschaften, Mädchen am Fluss: Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen prangen im ganzen Haus. Der Künstler war Brigadeführer der Maler in Golzow und der Opa des Wirts. www.gasthaus-pension-wagner.de/
Küstrin/Kostrzyn Der Vater von Friedrich II. ließ hier 1730 nicht nur den besten Freund seines damals 18-jährigen Sohnes – Hans Hermann von Katte – köpfen, weil die beiden sich heimlich ins damals liberale England absetzen wollten, sondern tötete auch dessen Lieblingskaninchen. All das auf der Festung Küstrin, wohin sein Vater ihn verbannt hatte. Ab 1. August findet am Rande der Stadt das schlammige Festival „Przystanek [Haltestelle] Woodstock“ statt, 2012 wurde es von mehr als 500.000 Jugendlichen besucht. Auf der Festung, die einmal die Altstadt von Küstrin war, finden regelmäßig Führungen und Ausstellungen statt. www.tourist-info-kostrzyn.pl
Lagow In diesem zwischen zwei Seen, zwei Diskos, einem Schlossberg und drei Kinos eingezwängten Ort ist im Sommer der Teufel los: Es sammeln sich Motorradfahrer und Gymnasiasten aus ganz Polen. Und seit 1969 findet dort Ende Juni ein Filmfestival statt – was dem Lagower Camping- und Badeleben einen pädagogisch wertvollen Inhalt beschert: //www.lagow.pl/:http://www.lagow.pl/. In fast jedem Haus kann man billig Zimmer mieten, ferner gibt es etliche Bootsverleihe.
Slubice/Frankfurt Die meisten Frankfurter sind im Sommer am Helenesee. Nach der Wende wurde es von einem Stadtpolitiker aus Westberlin in übler Weise einem anderen Westberliner zugeschanzt, der daraus die Helenesee AG machte – und für alles Eintritt verlangt. Es gibt auf der Westseite eine gewisse Kleist-Verehrung: www.kleist-museum.de/. „Über sieben Brücken musst du gehen, sieben dunkle Jahre überstehen, Siebenmal musst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein.“
Eisenhüttenstadt Die Innenstadt von Eisenhüttenstadt wirkt futuristisch. Ab 1950 entstand hier das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) und eine „sozialistische Wohnstadt“. Der Ort existiert nur dank des Stahlwerks, das nach der Wende gegen alle Widerstände der westdeutschen Stahlindustrie vom belgischen Konzern Cockerill Sambre übernommen wurde, der seinerseits erst vom französischen Stahlkonzern Usinor und dieser dann von der Luxemburger Arcelor-Gruppe aufgekauft wurde. Heute gehören all diese Stahlwerke samt den polnischen einem indischen Milliardär: Lakshmi Mittal. Wir besuchen das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. Dort wird derzeit in einer Designausstellung gezeigt, was die DDR alles aus Plaste (Kunststoff) machte: „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“. www.alltagskultur-ddr.de
Neuzelle Der ganze Ort lebt von einer unter anderem mit 1-Euro-Jobs aufgemotzten Klosteranlage. Der Barockkitsch der Klosterkirche ist neu vergoldet worden, der große Klostergarten, steil zur Oderaue abfallend, durchaus schön anzusehen. Ambiente eines vornehmen Internats. Eine Ladenkette im Ort heißt „Bei der heiligen Schwester“. www.neuzelle.de/
Guben/Gubin Die ehemals reiche Textilstadt an der Neiße wurde 1945 zu einer Art Festung erklärt und von SS-Truppen verteidigt, was sie zu 80 Prozent zerstörte. In eine 1991 stillgelegten Chemiefaserfabrik zog 2006 der „Plastinator“ Gunther von Hagens. In ihr präparieren nun ehemalige TextilarbeiterInnen Menschenteile. Es stehen Straßen voller alter Villen. Die Hälfte dieser hübschen Häuser hat mit Suchthilfe zu tun, die andere mit Leichen. In einer Fabrik ist jetzt ein Museum: http://hutmuseum.de/. Wir gehen wieder über eine Brücke – nach Gubin. Wie immer ist es viel lebendiger in Polen. „Komm! Frau! Hier! Kauf!“ Goldener Honig.
Forst Ausziehen und ab in die Neiße, die hier an einer zerstörten Brücke durch eine breite Aue fließt. Die Auwiesen sind voller hoher Kräuter und Schmetterlinge. Zu Forst, das im Krieg zu 85 Prozent zerstört wurde, gehört jetzt auch das Neubaugebiet: Horno. Das Dorf Horno musste dem Braunkohleabbau weichen. Für Hornoer war die Zwangsumsiedlung bitter, mehrere alte Leute überlebten sie nicht, und die Tauben und Bienen wollten nicht in Forst bleiben. www.verschwundene-orte.de/de/umgebung/der_ortsteil_horno/der_ortsteil_horno/70589
Bad Muskau/Leknica Der Park von Fürst Pückler ist ein Ort, an den man sich lange erinnert. Man muss dort gewesen sein, um ihn nicht beschreiben zu können. Es gibt auch Pückler-Eis. www.muskauer-park.de/
Rothenburg Deutschland hat viele Rothenburg, dieses erreichen wir nach einer langen Fahrt durch den ausgedehnten Truppenübungsplatz Oberlausitz. Der Ort wurde uns wegen des dort ansässigen „Martinshofs“ empfohlen, zu dem ein freundliches „Hotel zur Krone“ gehört: www.martinshof-diakoniewerk.de/index.php?id=91. Daneben zählt zu dem vom evangelischen Diakoniewerk betriebenen Arbeits- und Wohnkomplex für behinderte, alte, kranke und in Not geratene Menschen auch noch ein italienisches Restaurant.
Die Kulturinsel Einsiedel Wir wären an den Holzplastiken und einem Baumhaushotel, ein Freizeitpark zu beiden Seiten der Zentendorfer Straße, glatt vorbeigefahren, wenn wir nicht auf der Koppel ein totes Pferd gesehen hätten – das sich als ein schlafendes Kamel erwies. Erwachsene zahlen 11 Euro Eintritt, für Kinder sind die Preise nach Gewicht gestaffelt. Das „Folklorum“ inszenierte ein Holzgestalter. www.kulturinsel.de/
Herrnhut Der Graf von Zinzendorf erlaubte 1772 den Böhmischen Brüdern, sich hier anzusiedeln. Pietistisch gemäßigt nannten sie sich „Brüdergemeinde“. Sie missionierten fast überall – jedoch auf eine sehr feinfühlige Weise. Im neu geordneten Herrnhuter Missionsmuseum: www.voelkerkunde-herrnhut.de/, sind ihre globalen Aktivitäten in Form ethnologischer Objekte dokumentiert.
Görlitz/Zgorzelec Die spätgotisch-renaissancistisch-barocke Altstadt wurde nach der Wende mit Kamelhaarpinseln renoviert und gehört westdeutschen Emeritierten. In den Plattenbauten drumherum brüten Neonazis Böses aus. Auf der polnischen Seite findet das wirkliche Leben statt. Anzusehen ist dort das Wohnhaus des Schusters Jakob Böhme (1575–1624), dessen Philosophie Marx so gelobt hat, dass die DDR eine Schuhmacher-Produktionsgenossenschaft nach ihm benannte. Die Ufer-Restaurants auf der polnischen Seite stehen denen auf deutscher Seite inzwischen in nichts nach – außer dass sie nur halb so teuer sind.
Ein junger Landstreicher mit Gitarre meditiert am Dom, schaut Richtung Fluss, gegen Himmel. „Es gibt dich wirklich?“ Er guckt verwirrt. Im Regional-Museum staut sich der Tourismus: www.schlesisches-museum.de/. Das helle Flackern während der Dämmerung sieht erst aus wie ein Feuerwerk über Görlitz. Dann ein Unwetter. Wir lassen Zittau aus.
Auf einer Araltankstelle zieht Helmut den nassen Anzug aus und seinen gestreiften Anzug an. Dann krempelt er die Ärmel hoch. „Wie sieht das aus?“ „Cool. So, als könntest du dazu ein rosa Hemd tragen.“ „Du meinst, meine Zahnlücke passt dazu?“
„Ja, natürliche Eleganz.“
„Zwei Zigeuner in der Nacht, singen zur Gitarre, spielen meine Sehnsucht wach. Wo sind all die Jahre? Zu dem Lied aus alter Zeit, rauschen leis die Bäume. Und ich seh unendlich weit. Längst verlor’ne Träume (Zähne).“
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