Der Fortsetzungsroman: Kapitel 10: Von wegen sozial
Was bisher geschah: Eine durchzechte Nacht beschert Leena Übelkeit und die Erkenntnis, halb Berlin geküsst zu haben. Auch ihre beste Freundin Nuray. Mit Zunge.
Fünf Tage. Fünf viel zu lange Tage – gefüllt von Fremdschäm-TV, blutigen amerikanischen Krimiserien und ärgerlichen Polit-Talks. Geholfen hatte es nicht. Die Bilder der letzten Woche ließen sich nicht mal durch hochfrequenten Fernsehkonsum überschreiben.
Leena sturzbetrunken auf der Oranienstraße. Rückenschwimmend im Kanal. Tanzend auf dem Mariannenplatz. Ihr Mund auf Nurays Lippen ... Auf Nurays und, wenn sie es richtig rekonstruiert hatte, auf denen eines guten Dutzend anderer Menschen.
Seit dem Alkoholexzess hatte sie das Haus nicht mehr verlassen. Offiziell, weil sie zu Punkt vier auf ihrer „Was ist Lust“-Liste recherchierte: Faulheit. Inoffiziell spielten die Scham und die anhaltende Übelkeit, die Leena dem Alkohol verdankte, eine nicht unbedeutende Rolle.
So oder so: Sie fiel seit Tagen von einem Reality-TV-Format ins nächste, versuchte die Knubbel ihrer Raufasertapete zu zählen und führte stundenlange Telefonate – mit ihrem Exmitbewohner Kay, der sie glühend um das Faul-Sein beneidete, mit Nuray, um sich mit immer neuen Details ihres Blackouts füttern zu lassen, mit ihrer ehemaligen Au-Pair-Familie in Irland, ihrem Großvater im Pflegeheim in Coburg und dem Lieferservice des Supermarktes.
Das Resümee des Selbstversuchs überraschte sie wenig: Faul-Sein war schweinelangweilig. Nicht mal müde wurde man davon.
Leena gähnte ihren Computer an.
Wer hatte noch mal die bescheuerte Idee mit der Faulheit? #Lust warf sie in den virtuellen Raum.
Twitter blieb still. Sie öffnete Facebook. Eine neue Nachricht an ihrer Pinnwand.
Ich lach mich schlapp, @Pan Demie!, schrieb Reiner Irrsinn, der im wahren Leben Anne hieß und Leenas Cousine mütterlicherseits war. Pan Demie, dachte Leena. Ich sollte meinen Nickname ändern. Sie las weiter. So hab ich dich ja noch nie gesehen! Das bist du doch, oder?
Das Video darunter hatte nach einer Dreiviertelstunde schon siebenunddreißig Likes und fünfzehn Kommentare. Mit einer unguten Vorahnung klickte Leena es an.
Die Kamera wackelte im Rhythmus der U-Bahn, in der der Film gedreht worden war. Der Ton war unterirdisch. Aber das Lachen … Kein Zweifel. Das war sie – im monströsesten Lachanfall der Menschheitsgeschichte. In der U7.
Mit brennenden Wangen verfolgte Leena den Weg des Filmes durchs Internet. Er musste seit mindestens zwei Wochen online stehen, zumindest war er auf den einschlägigen Filmportalen bereits mehrfach verlinkt. Der Urheber war zwar nicht mehr auszumachen, aber Leena wusste, dass es der Typ mit dem Smartphone war, der ihren Lachanfall gefilmt hatte. Wie konnte er es wagen?
Bloß nicht die Opferrolle!, ermahnte sie sich. Besser: Selbstermächtigung.
Sie putzte ihre Brille, bis sich ihre Gesichtsfarbe normalisiert hatte. Dann kommentierte sie den Eintrag an ihrer Pinnwand. Ich gestehe, @Reiner Irrsinn. Es ist ein Projekt: Was ist Lust? Jemand hat „Lachen“ geantwortet. Natürlich hab ich es gleich ausprobiert.
Natürlich! Sie könnte sich küssen für ihre Coolness. Auch ihre Cousine zeigte sich angemessen beeindruckt.
Krass. So exhibitionistisch kenn ich dich gar nicht.
Ich mich auch nicht, dachte Leena. Sie formulierte eine lässige Erwiderung, als ein weiterer Kommentar erschien.
Fühlst du dich gar nicht bloßgestellt? Wobei: Es soll ja Menschen geben, für die Exhibitionismus Lust ist. Punkt 16 auf deiner Liste, stimmt’s?
Der Name neben dem Kommentarfeld bescherte Leena Gänsehaut. Sie sprang auf, lief in Küche, Bad, Schlafzimmer. DIE LUST war nirgends zu sehen. Offensichtlich manifestierte sie sich mittlerweile nicht nur in Leenas Wohnung und in der U-Bahn, sondern trieb sich auch in sozialen Netzwerken herum.
Leena loggte sich aus. Und wieder ein. Keine Chance.
Sie startete den Computer neu.
DIE LUST war immer noch da.
Selbstermächtigung, erinnerte sie sich. Flieh nach vorne.
Ein Klick auf das Icon neben dem Kommentar öffnete die Seite DER LUST. Leena sandte ihr eine Privatnachricht.
Dinge können nur Lust bereiten, wenn sie freiwillig geschehen. Exhibitionismus ist lustvoll für Menschen, die es lieben, angestarrt zu werden. Zu denen gehöre ich nicht. Aber danke für den Tipp. Jetzt kann ich einen weiteren Punkt von der Liste streichen.
Die Antwort kam prompt: Gern geschehen. Wie wär es dann mit Voyeurismus? Schon mal in fremden Tagebüchern geblättert? Mit ausgeschaltetem Licht in die Fenster deiner Nachbarn von gegenüber geschaut? Darüber fantasiert, jemandem bei Sex zuzusehen? An Unfallstellen extra langsam gefahren? Na? NA?
Scheiße, dachte Leena. Woher …?
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