Kommentar Pflege: Wette auf das schlechte Gewissen
Die Zeiten sind gut für höhere Beiträge zur Pflegeversicherung. Denn viele Nachkommen sorgen sich um die Versorgung der gebrechlichen Eltern.
E s gibt politische Diskussionen, in denen ideologisches Geschwätz schmerzhafte Verteilungsdebatten über Jahre hin verschleiert. Die Pflege ist ein solcher Bereich, in dem es gerne um Gefühle, um Familie und Nachbarschaftshilfe geht, dabei sind Fakten hilfreicher.
Erstens: In einer zunehmend ökonomisierten Gesellschaft wird die Versorgung der Senioren durch bezahlte Kräfte zunehmen, denn mehr Frauen sind berufstätig und haben für die private Pflege keine Zeit.
Zweitens: Die Pflege wird aufwändiger, denn die Zahl der Demenzkranken nimmt zu. Demenzkranke machen mehr Arbeit. Das weiß jede Pflegekraft, die täglich SeniorInnen im Pflegeheim versorgt, die Kontinenzprobleme haben, Essen und Trinken verweigern und nachts über die Gänge schleichen.
Mit dem Aufwand in der Pflege steigt auch die Zahl der Angehörigen, die ein schlechtes Gewissen haben. Sie kriegen mit, wenn der ambulante Pflegedienst Mutter oder Vater in der fernen Stadt nicht ausreichend versorgt, wenn ein Elternteil in ein personell unterbesetztes Heim muss und kein Geld für andere private Lösungen da ist.
Die Zeichen stehen daher gut für eine neue Verteilungsdebatte. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe und die Friedrich-Ebert-Stiftung legten am Montag ein Konzept vor, das eine Aufstockung des Pflegeversicherungsbeitrags um 0,5 Prozentpunkte erfordert, also eine höhere Belastung von ArbeitnehmerInnen und Arbeitgebern. Auch SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück ist für mehr Leistungen und höhere Beiträge.
Nachkommen, die nicht selbst pflegen können oder wollen, werden sich dem nicht verschließen. Der Ruf nach höheren Leistungen und Beiträgen im Kollektivsystem ist auch eine Wette auf das schlechte Gewissen. Könnte politisch funktionieren. Und das ist gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Krieg im Libanon
Netanjahu erhöht den Einsatz
US-Präsidentschaftswahlen
Warum wählen sie Trump?
Die US-Wahl auf taz.de
CNN und AP erklären Trump zum Wahlsieger