Bio-Food: Eine saftige Heuschrecke zum Frühstück
Carsten Neukirch weiß, was Schlangen, Frösche und Eidechsen am liebsten verspeisen. Ein Besuch beim Insektendealer von Neukölln
Das Chamäleon ist hungrig, aber die klebrige Zunge zu kurz. Im weißen Licht einer Halogenlampe sitzt es auf seinem Ast und prüft mit rollenden Augen die Distanz zu dem leckeren Brummer gegenüber. Gemächlich setzt es sich in Bewegung, aber da ist die Beute schon weggeflogen.
„Du bist zu langsam“, spottet Carsten Neukirch, der die Jagdbemühungen seines Arbeitskollegen lächelnd beobachtet hat. Wenn das Chamäleon nur wüsste, was für eine krabbelnde Festtafel sein Herrchen unter seinem Ast bereithält. In durchsichtigen Plastikdosen wimmelt es nur so vor exotischen Leckereien: kubanische Kellerasseln, asiatische Bohnenkäfer, Fauchschaben aus Madagaskar oder bunte Wüstenheuschrecken. Auf dem Arbeitstisch zirpen sauber gestapelt fette Steppengrillen für 1,80 Euro die Dose.
Carsten Neukirch hat alles, was Reptilien und Amphibien satt und glücklich macht. Er ist der „Insektendealer“. So steht es an der schmalen Tür seines Geschäfts in der Neuköllner Elbestraße. Wer daran vorbeigeht, hält es vielleicht eher für eine Fahrradwerkstatt oder einen Hobbyraum, wären da nicht dieses Terrarienlicht und ein verdächtiges Zirpen.
Neukirch ist gelernter Schlosser und Reptilienliebhaber. Vor elf Jahren hat er sich gedacht, es könne ja ganz nett sein, mal für ein Jahr aus seinem Beruf auszusteigen, seine Lieblingsbeschäftigung zu einem kleinen Geschäft zu machen und Insekten zu verkaufen. Wer Reptilien hält, weiß meistens auch, wie man die Futtertiere züchtet – und wenn sie nicht sofort gefressen werden, vermehren sich Heuschrecken eh ganz von selbst.
„Für den Geldbeutel bringt das weniger, fürs Leben aber mehr“, meint Neukirch. Man merkt es ihm an, wenn er strahlend und fast druckreif davon erzählt, was Heuschrecken so fressen und warum viele Reptilienhalter ihren Lieblingen zu viel davon zumuten. Eine Schlange, die ihr Futter verweigert, ist in den meisten Fällen einfach schon satt. Das Chamäleon bekommt jetzt seinen Leckerbissen, eine saftige Heuschrecke, die es mit einem unangenehmen Knacken genüsslich verspeist.
Begonnen hat Carsten Neukirchs Leidenschaft für Reptilien mit einer Landschildkröte, die er als Kind im Park gefunden hat. Heute hält er sich mehrere Chamäleons, Schlangen und einen Albino-Königspython. Der hat sich, vor neugierigen Augen verborgen, in einer Ecke seines Terrariums zusammengerollt.
Gegenüber steht der große Kühlschrank. Hier warten frisch tiefgefrorene Mäuse und Ratten auf den Verkauf. Mehr als 1,30 Euro ist dem Kunden eine frische Maus nicht wert, und sie zu einem solchen Preis selbst großzuziehen findet Neukirch irgendwie makaber. Alle anderen Futtertiere hat er selbst gezüchtet, aufgezogen und verpackt. Die Dosen sind voll mit „gesunden, kräftigen Insekten“ – anders als im Großhandel, wie er versichert.
Zu Neukirch kommen alle, die Reptilien mögen, der Arzt aus Charlottenburg ebenso wie Leute mit bescheideneren Einkommen. Und sie kommen nicht nur wegen der Heuschrecken, sondern auch, um zu fachsimpeln, die meisten seit Jahren. Als Carsten Neukirch anfing, waren Futtertiere noch nicht so einfach verfügbar. Reptilien waren zwar leichter zu haben, aber noch nicht so populär. „Mit exotischen Reptilien ist es wie mit Tattoos“, scherzt er. „Vor zwanzig Jahren war das noch was Besonderes, heute hat jeder welche.“
Eine Echse ist in Kauf und Pflege günstiger als ein Hund. Nur die steigenden Strompreise machen den Reptilienhaltern zu schaffen, da die meisten ihrer Lieblinge künstliche Wärme und Beleuchtung benötigen. Mit Leuten, die für ihr Ego eine dicke Schlange brauchen, kann er wenig anfangen. Manchmal fragt ihn die Amtstierärztin, ob er nicht ein beschlagnahmtes Reptil bei sich aufnehmen will. Aber Neukirch hat genug Tiere, sowohl von denen, die fressen, als auch von denen, die gefressen werden. Und das macht eine Menge Arbeit.
Die Insektenzucht funktioniert wie ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb. In einer Ecke des Ladens gedeiht, gut beleuchtet, auf viereckigen Regalböden aus Metall junger Weizen, der im Tierfutterhandel sonst als „Katzengras“ verkauft wird. Den fressen die Heuschrecken besonders gern, genauso wie frische Karotten und die guten Haferflocken von Aldi. Jeden Morgen desinfiziert und wäscht Neukirch ihre kleinen, weißen Futter- und Wassertröge aus Plastik. Ob schon mal welche ausgebrochen sind? Selbstverständlich! Ist aber auch nicht weiter schlimm, da die Futterinsekten, die Carsten Neukirch züchtet, eine wärmere Umgebung gewohnt sind. Bei 10 Grad würden sie draußen auf der Elbestraße in einer Kältestarre verenden.
Neukölln gefällt ihm, auch wenn sich hier über die Jahre viel verändert hat. Als er sich vor 25 Jahren hier sein erstes Tattoo hat stechen lassen, waren viele Geschäfte noch vernagelt. Heute laufen selbst in der ruhigen Elbestraße deutlich mehr Leute an seiner Tür vorbei.
Die Klientel, die in den letzten Jahren zugezogen ist, gefällt ihm allerdings nicht. Nicht die Ausländer, sondern die Studenten. Er mag an Neukölln das Multikulti – dass sich die Weserstraße zur Partymeile entwickelt, gefällt ihm weniger. Ab und zu geht er aber nach Feierabend dort einen Cocktail trinken. Mit so einer Bar, die oft auch nicht größer als sein Laden ist, könnte man bestimmt mehr Geld verdienen, meint er.
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