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Die WahrheitHering im Kürbismantel

Kolumne
von Pia Frankenberg

Unser Leben gehorcht unabänderlichen Ritualen. Täglich Arbeit, Termine, Zähneputzen, am Wochenende dann Auto- oder Gartenpflege.

U nser Leben gehorcht unabänderlichen Ritualen. Täglich Arbeit, Termine, Zähneputzen, am Wochenende dann Auto- oder Gartenpflege. Besonders Kinder brauchen ja Rituale, und natürlich hatte auch ich welche. Zum Beispiel mittwochs nach der Schule mit der besten Freundin bei Rewe Gummibärchen klauen, dann samstags beichten und bis Dienstag durchhalten, bevor uns mittwochs die Versuchung wieder in die Knie zwang.

Inzwischen haben sich meine Rituale vom Beichten zum „Sportschau“-Gucken bewegt. Überhaupt genügt dem wahrhaft freien Leben ein Minimum an Ritual, denn das schafft Raum für Spontanreisen. Kairo! Istanbul! Uckermark! Anlässlich einer zwanzig Jahre verspäteten – ich zitiere – „Erkundung der SBZ“, verlangt ein alter Freund aus Essen nach einem Wiedersehen in einem Ort namens Menkin, „am Plattenbau rechts, gibt aber eh nur eine Straße“.

Menkin liegt nah bei Polen, und am Ortseingang grüßt besagter ausgeweideter Plattenbau, dessen Rückseite den niedrigeren Nachbarn die Fassade verdunkelt, während vorn osteoporöse Balkone ihre bröselnden Träger in die fahle Herbstsonne recken. Aufschluss über das wahre Drama uckermarkscher Dünnbesiedelung liefert ein Schild vor dem Plattenbauidyll: „Kathrins Party-Service und Essen auf Rädern“.

Ich treffe den Freund in seiner mit einer schwindelerregenden Auswahl verschiedener Stoffmuster ausgestalteten Ferienwohnung und lasse mir den von riesigen Goldfischen bevölkerten Gartenteich zeigen. Darum herum spannt sich ein fester Maschendraht mit der Warnung „Vorsicht, Elektrozaun“. Ja, auch Fische haben Fluchtgedanken! Nach einem Spaziergang in Landschaft wollen wir dann etwas essen.

Im Restaurant Schützenhaus neben der verwaisten Badeanstalt am See (schießen die hier auf Schwimmer?) schaffen wir gerade noch den Einlass, bevor sich zwei Busladungen älterer Mitbürger in die Speiseräume ergießen. Aus sicherer Entfernung verfolgen wir das Programm des Seniorenverbands Brandenburg, welches ein rüstiger Vorsitzender via Mikrofon im Parteitagston verkündet. Verleihung diverser Ehrennadeln (wofür, vertönt im Lautsprecherknattern), Ankündigung von Ausflügen und Weihnachtsfeiern, abgerundet von der Planung des Ehemaligentreffens der FDJ.

Dann kommt – der Präsentation nach zu schließen von Katrins Partyservice – unser Essen: Brathering, serviert an Papaya- und Melonenschnitte, dekoriert mit allerlei Grün, Maiskörnern und gelber Blüte. Dazu gibt es Remouladensoße und eine Schüssel 1-a-Bratkartoffeln.

Auf dem Heimweg machen wir aus Solidarität mit den Kulturschaffenden der Region Halt am Brüssower Kuturzentrum, das ein Kino (man spielt „Hanna Ahrend“), eine Familienberatung und die Außenstelle des Kinderschutzbunds beherbergt sowie ein Kursangebot, welches Licht auf die Papaya wirft: „Exotische Früchte von A–Z und was man daraus machen kann – mit Frau Müller und Frau Sy“ und „Basteln mit Kürbissen mit Frau Müller“. Wir freuen uns schon auf Hering im Kürbismantel.

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