Kostenloser Nahverkehr: Nie wieder Schwarzfahren!
Im belgischen Hasselt ist er gescheitert, im estnischen Tallinn Realität: der Nahverkehr zum Nulltarif. In Deutschland ist er auch möglich: ein Sieben-Punkte-Plan.
1 Erst einmal ist immer diese Grundskepsis da, diese grauen Bedenken. Die müssen weg. Man braucht Platz im Kopf, um sich auszumalen, wie schön es sein könnte, einfach so, ohne Kleingeld, Chip-Card, Stempel in den nächsten Bus zu steigen, ohne sich mit Fahrschein-Automaten rumzuärgern und ohne Kontrolleursangst. Wie schön, sich den Autostress zu sparen, wie schön, die Staus zu reduzieren, die Unfallzahlen zu verringern, Schwarzfahren als Haftgrund zu eliminieren, die Luft zu verbessern, die FahrerInnen vom Klimpergeld zu entlasten, das ja oft genug ein Überfallanreiz ist – all das sind Effekte, die sich mit einem fahrscheinlosen öffentlichen Personennahverkehr erzielen lassen, nicht automatisch, und keiner hat gesagt, dass es ganz einfach wäre. Aber es ist einfacher als man denkt. Und es ist möglich. Nur wollen muss man’s
2 Irgendwo muss man damit anfangen. Aber wo? Es gibt eine Reihe Faktoren, die ein Pilotprojekt bräuchte: Die Stadt sollte nicht zu klein, das Netz funktionstüchtig sein, aber auch nicht zu teuer. So hat Hamburg eine U-Bahn, und deren Erweiterung ist ähnlich schwer zu kalkulieren wie ein Konzerthaus-Neubau. In Frage kämen eher Orte wie Braunschweig oder Kiel oder Schwarzfahrerhochburgen, da liegt Hannover in Norddeutschland auf Platz eins, etwas vor Bremen – vielleicht eingedenk dessen, dass in diesen zwei Städten 1967 das revolutionäre Potenzial des ÖPNV zu Tage getreten war. Ja, eigentlich hat Bremen die besten Voraussetzungen. So hat einerseits Wilfried Eisenberg, der Chef der dortigen Straßenbahn AG (BSAG) durchaus schon Sympathien für die Idee gezeigt, was hilfreich ist und keineswegs die Regel. In Bremen ließe sich zudem das neue System entweder als Landesgesetz austüfteln, das die zwei Städte Bremen und Bremerhaven zur Umsetzung zwänge, oder aber als kommunale Satzung. Und schließlich sind dort finanzwirksame Volksbegehren zulässig. Denn: Wenn, dann wird das Schwarzfahren ja wohl über direkte Demokratie abgeschafft – oder glauben Sie, dass Ihre Stadtverordnetenversammlung sich das traut?
3 Dafür braucht man Mitstreiter. Die Voraussetzungen sind gut. Es gibt sogar CDU-Leute, die dafür wären. Einige FDP-Landesverbände hatten die Idee schon mal im Programm. Im Grunde, das ist ja das Schöne, kann jede gängige Ideologie fahrscheinlosen ÖPNV gut finden. Er lässt sich als Vergesellschaftung öffentlicher Infrastruktur darstellen. Er erleichtert die Teilhabe. Er ist, wie die Beispiele Hasselt und Tallinn zeigen, ökologisch und ökonomisch sinnvoll … Hauptantrieb sind in Bremen bislang die Piraten. Die haben das Thema am weitesten ausgearbeitet. Dass sie bei den Wahlen bislang nicht so richtig erfolgreich waren, ist fast ein Vorteil, weil es noch stärker zur Partnersuche zwingt. Mit der Linken hat man eine Arbeitsebene gefunden. Ein sich schärfer links verortendes Bündnis hat mehrfach eher anarchische Umsonstfahrtage ausgerufen, so als Aktion, ist zwar versandet, aber: Das Potenzial gibt’s. Der BUND ist in Bremen stark und kampagnefähig, und in dessen Haus residiert noch dazu der Landesverband des ökologischen Verkehrsclubs Deutschland, des VCD. Die kritische Masse wäre also vorhanden.
4 Was finanztechnisch nicht klappt ist: Nulltarif einführen und fertig. In Hasselt hat man den ÖPNV einfach aus dem Investitions-Budget bezahlt, was ein Problem wird, wenn dessen Kosten und die Steuereinnahmen nicht im Gleichschritt wachsen – und auch im deutschen Haushaltsrecht kaum möglich scheint. „Die ultimative Form ist das beitragsfinanzierte ’Bürgerticket‘ für alle“, stellt eine Studie des VCD über „Möglichkeit und Grenzen des ÖPNV zum Nulltarif“ fest: ein Modell also, bei dem alle BürgerInnen zahlen müssten – genauso wie die Müllabfuhr oder den Rundfunk, einfach damit die Dienstleistung bereit steht. Das wäre auch eine sehr transparente Form der Finanzierung. Denn, darauf weisen die Piraten hin, allein 2012 hat Bremen mehr als 54 Millionen Euro an die BSAG überwiesen, um Verluste auszugleichen – eine Summe, um die sich der öffentliche Haushalt per Beitragsmodell entlasten ließe. Der Monatsbeitrag läge in Bremen wohl noch unter 30 Euro. BSAG-Chef Eisenberg hatte im August in der taz sogar von 25 Euro gesprochen – weniger als halb so viel wie eine Monatskarte für die gesamte Stadt
5 Ein Investitionsprogramm müsste man skizzieren: Denn der ÖPNV ist ja gut ausgelastet, eine Fahrgastzahlenexplosion würde er ohne Verbesserung des Angebots weder verkraften, noch, umgekehrt, erzielen. Und beides ist wünschenswert: Je größer der Zuwachs, desto stärker die Abnahme des Autoverkehrs, Baumaßnahmen fördern die Konjunktur. Die Chancen, dafür Förderungen abzugreifen sind gut, denn die EU hat die Verkehrsinfrastruktur als neuen Schwerpunkt definiert – und die entsprechenden Mittel bis zum Jahr 2020 verdreifacht.
6 Jetzt muss man das in Form bringen, als Gesetz oder Satzung: Etwas knifflig wird es bei der Frage, wie man die Pendler einbeziehen kann (das wäre wichtig) und wie die Touristen schröpfen (das ist eher Populismus). Politisch debattieren muss man die Definition von Ausnahmen: Klar sollten Menschen mit Behinderung weiter gratis fahren, Kinder auch, aber dann: Ist eine soziale Staffelung möglich, um Familien zu entlasten? Und: Wie lässt sich das Modell mit dem Verkehrsverbund koordinieren, und wie mit dem Semesterticket vereinbaren? An solchen Fragen entzünden sich gern Klagen.
7 Und dann? Am besten wäre es gewesen, direkt mit Inkraftreten der Erhöhung der Ticketpreise mit dem Unterschriftensammeln zu beginnen, denn verbreiteter Ärger ist ja für so was ein guter Antrieb. Wahnsinn: Um 4,6 Prozent im Schnitt sind sie in Bremen zum Jahresbeginn gestiegen – und ausgerechnet der Preis fürs gesondert bezuschusste Sozialticket um stolze 23,7 Prozent! Noch reicht jedenfalls die Zeit, um initiativ zu werden: Die nächste Landtagswahl kommt erst 2015. den ganzen Schwerpunkt "Kostenloser Nahverkehr" lesen Sie in der taz.am Wochenende oder hier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein