Beliebte Internetseite Ekşi Sözlük: Die Seite, die alles weiß
Die türkische Webseite Ekşi Sözlük ist eines der ältesten sozialen Netzwerke der Welt. Für die Gezi-Proteste war sie wichtig. Aber auch AKP-Fans mischen mit.
Ekşi Sözlük („Das saure Lexikon“) ist eine der beliebtesten Internetseiten der Türkei. Ein Lexikon, das alle Themen enthält, über die auch Wikipedia Auskunft erteilt oder erteilen könnte. Und noch viele mehr: „Leute, die 2014 eine Armbanduhr tragen“, „Atheisten, die beim Sex ,oh mein Gott‘ sagen“ oder „Der Umweltminister, der sich über Umweltschmutz beschwert“.
Anders als bei Wikipedia werden die Artikel nicht ständig überarbeitet, sondern wie in einem Thread in einem Onlineforum von verschiedenen Usern fortlaufend ergänzt. Dazu zeigt eine Spalte an, welcher Artikel aktuelle Einträge enthält und zu welchen Artikeln am jeweiligen Tag die meisten Einträge verfasst wurden.
Der wichtigste Unterschied zu Wikipedia: Es gibt keinen Anspruch auf Wahrheit. Einige Beiträge sind nach Stil und Inhalt klassisch-enzyklopädisch, andere subjektiv und bewertend, und einige beginnen sogar mit der Formulierung „Soweit ich weiß…“. Zugleich ist Ekşi ein Archiv der Zeitgeschichte: ein Fußballspiel, ein Zitat, irgendeine Nachricht, die ein User für bemerkenswert findet – relevant ist, was ein User relevant findet. Im Internet ist Platz, jedenfalls bei Ekşi.
Das Lexikalische ist vor allem die sprachliche Form, die (meistens) für eine Knappheit der Beiträge sorgt und (meistens) einen Rahmen herstellt. So definiert jemand die kurdische PKK-Guerilla: „Organisation, der sich jeder anschließen kann, der Leute töten will.“ Gleich darunter steht die Replik: „Organisation, der sich niemand anschließen muss, nur weil er Leute töten will, da er sich ebenso der Polizei anschließen kann.“
Überarbeiter und gekürzter Vorabdruck aus: „Taksim ist überall – Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei“, Edition Nautilus, Hamburg 2014, 224 Seiten, 12,90 Euro.
Derzeit hat Ekşi 21,6 Millionen Beiträge zu 2,9 Millionen Themen, inklusive der verwaisten Seiten. Dazu gibt es rund 400.000 registrierte User und 90.000 Anwärter. Mehrfachmitgliedschaften sind erlaubt, doch muss man sich jedes Mal einer Aufnahmeprozedur unterziehen. Und weil Google-Türkei die Seite so bevorzugt behandelt, kennt jeder türkische Internetuser Ekşi. „Unser Google-Ranking ist so gut, weil Ekşi so alt ist“, erläutert Sedat Kapanoğlu.
Anarchisch und unterhaltsam
Im Jahr 1999, also vor Wikipedia (2001), Myspace (2003), Facebook (2004) oder Twitter (2006), gründet er Ekşi Sözlük. Es ist ein Hobby und zunächst Teil der Satireseite Sourtimes, die er mit seiner damaligen Freundin betreibt. Kapanoğlu ist da 22 Jahre alt und studiert in seiner Geburtsstadt im nordwestanatolischen Eskisehir Volkswirtschaft. In Computer vernarrt ist er seit seiner Kindheit.
Schon mit zehn Jahren übt er sich mit einem älteren Bruder in der Computersprache BASIC, später schenken ihm seine Eltern einen Computer, einen Amstrad_CPC464.jpg:Amstrad CPC464, Arbeitsspeicher 64 Kilobyte RAM. „Ich habe darauf gespielt und programmiert“, erzählt Kapanoğlu. „Mich hat es fasziniert, einem Computer Befehle zu erteilen, der damit etwas Neues erschafft.“ 1996 sind in einer von der Zeitschrift PC World Turkey erstellten Top Ten der in der Türkei geschriebenen Programme sechs von Kapanoğlu. „Nicht, dass die so besonders gut waren«, sagt er. „Es gab damals nicht so viele Programmierer in der Türkei.“
Mitte der neunziger Jahre lernt er HiTNet kennen, das erste Mailboxnetz der Türkei. Eines Tages schickt ihm ein Freund auf diesem Weg die elektronische Fassung von Douglas Adams’ Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“. Kapanoğlu findet hier die Inspiration für Ekşi Sözlük: ein anarchisches Nachschlagewerk, das unterhält, informiert und cool ist. „Die heilige Quelle des Wissens“, lautet das Motto der Seite.
Bald nach der Gründung des Lexikons zieht Kapanoğlu nach Istanbul und beginnt ein Informatikstudium, das er aber ebenfalls nicht beendet. Er hat etwas anderes: Ein Angebot von Microsoft. Während er in Seattle arbeitet, wächst Ekşi aus seinem Mantel heraus, ein Rechtsanwalt steigt als Teilhaber ein, und die Seite beginnt allmählich durch Werbung Geld zu erwirtschaften. Als er mit Ekşi ungefähr so viel verdient wie bei Microsoft, kehrt Kapanoğlu nach fünf Jahren in den USA zurück nach Istanbul.
Der Erfolg ist so groß, dass sich bald Nachahmer finden, die sich ebenfalls etablieren, ohne dem Original den Rang streitig machen zu können. Im Ausland entsteht allerdings nur ein Klon – in Aserbaidschan, dessen Amtssprache mit dem Türkeitürkisch eng verwandt ist. „Auf mich kamen immer wieder Leute zu, die etwas Ähnliches machen wollten“, erzählt Kapanoğlu. „Aber das hat sich nirgends durchgesetzt.“ Warum er in der Türkei so einen Nerv getroffen hat? „Bei Ekşi Sözlük kann jeder schreiben, was er will. Das versteht man vielleicht im Ausland nicht, in den USA hat es jedenfalls niemand verstanden, wenn ich versucht habe zu erklären, warum ein Lexikon so populär ist.“
Verschiedene Wahrheiten
Am ehesten ähnle das Konzept von Ekşi den Online-Foren. „Aber da kann ein Admin alles löschen, das ihm nicht passt. Das gibt es bei uns so nicht. Es liegt nicht an mir zu entscheiden, ob etwas falsch oder richtig ist“, sagt Kapanoğlu. „Das reguliert sich von selbst. Und manches bleibt nebeneinander, so wie die Wahrheiten mancher Menschen verschieden sind.“
Auf der Arbeit trägt Kapanoğlu Jeans und T-Shirt, die Mitarbeiter – die meisten sind Frauen – tragen business casual. Die Mittagspause verbringt man zusammen im Konferenzraum, die Köchin hat für alle gekocht, das Team schaut gemeinsam eine Kochsendung. Untypisch für ein Internetunternehmen hingegen: Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter siezen die beiden Chefs. Die Firma sitzt im zehnten Stock eines bewachten Büroturms im Geschäftsviertel Levent. „Reine Vorsorge“, sagt Kapanoğlu – schließlich hatten islamistische Webseiten in der Vergangenheit mehrfach Kampagnen gegen ihn gestartet.
Auch mit staatlichen Stellen hatte Ekşi schon Ärger, mal wegen Blasphemie, mal wegen Drogenverherrlichung. Gerade ist wieder ein Prozess gegen Kapanoğlu und andere Autoren der Seite anhängig. Im Sommer 2011 geriet Kapanoğlu selbst in die Kritik der Netzcommunity, weil seine Firma die IP-Adressen von Usern an die Polizei weitergegeben hatte, gegen die wegen Blasphemie ermittelt wurde. „Aber wenn du die IP-Adressen nicht mitteilst, machst du dich strafbar. Twitter und Facebook machen das bislang nicht, aber an die kommt der türkische Staat nicht ran.“
Er sei in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der nach dem Putsch von 1980 alle eingeschüchtert gewesen seien, erzählt Kapanoğlu. „Heute gibt es mehr Freiheit, auch dank des Internets. Aber du stößt an Grenzen. Du willst auf eine Internetseite und stellst fest, dass die gesperrt ist. Du schreibst einen Tweet und wirst dafür festgenommen. Aber es gibt keine 95-prozentige Meinungsfreiheit. Entweder haben wir Meinungsfreiheit oder wir haben keine.“
An die Grenzen der Meinungsfreiheit stößt man nicht erst seit der Sperre von Twitter. Blockiert sind etwa Seiten der PKK oder der Hackergruppe RedHack, das schwule Datingportal Gayromeo, das Dokumentenaustauschportal Scribd, der Webseitendienst Google Sites und pornografische Seiten. Zeitweilig gesperrt waren die Blog-Plattform Wordpress oder die Videoportale DailyMotion, Vimeo und Youtube. Dem Blog Engelliweb zufolge waren Ende 2013 über 10.000 Seiten gesperrt. Das war noch vor Abschaffung des Richtervorbehalts Anfang Februar.
Vorgeschichte des Gezi-Parks
Doch es gibt auch Widerstand. Als die AKP-Regierung im Frühjahr 2011 obligatorische Internetfilter einführen will, formiert sich erst im Netz, dann auf der Straße Widerstand. Tausende demonstrieren unter dem Motto „Hände weg von meinem Internet in Istanbul“ und in weiteren Städten, auch die EU und die OSZE legen Einspruch ein, schließlich wird das Gesetz entschärft. Sedat Kapanoğlu ist einer der Initiatoren dieser Kampagne.
„In Taksim waren 50.000 Leute, die bis dahin größte Demonstration für Internetfreiheit in der Welt – zu einem Thema, für das sich die Opposition damals kaum interessierte. Für viele aus der Internetgeneration war diese Demonstration das erste Mal, dass sie auf der Straße waren“, sagt er. „Es ging nicht nur um die Freiheit des Internets, sondern allgemein um Freiheit. Auch da waren Fußballfans und LGBT-Leute dabei. Diese Kampagne gehört für mich zur Vorgeschichte des Gezi-Parks.“
Als zwei Jahre später der Gezi-Aufstand beginnt, wird Ekşi zur Informationsquelle. Der lexikalische Stil ist jetzt passé. Kapanoğlu mischt sich unter die Demonstranten, seine Freundin ist noch aktiver. „Dieser Despotismus, diese Gewalt gegen ein paar Menschen, die in einem Park Zelte aufgeschlagen hatten, hat mich wahnsinnig gemacht“, sagt er.
Über eine andere Sache hingegen wundert er sich nicht: „Worüber alle so überrascht waren, kennen wir seit Jahren aus Ekşi. Wir kennen den Humor der jungen Generation. Und bei Ekşi gibt es Leute mit allen möglichen politischen Ansichten – Kemalisten, Liberale, Sozialisten, Anhänger der AKP, der rechten MHP und der PKK. Es wird manchmal ausfallend, es gibt Reibereien, aber grundsätzlich gibt es eine Form, an die sich alle halten und innerhalb der sie ihre Argumente austauschen.“
Auch zuletzt, bei den kompromittierenden Tonbandmitschnitten oder dem Tod von Berkin Elvan funktionierte Ekşi oft als Nachrichtenquelle. Dass die Formulierung „etwas für Bilal erklären“, eine Anspielung auf Recep Tayyip Erdoğans offenbar etwas begriffsstutzigen Sohn Bilal, binnen weniger Stunden Eingang in den türkischen Sprachschatz fand, ist Autoren dieser Seite zu verdanken.
Denn im Gegensatz zu Facebook bestehe Ekşi Sözlük nicht allein aus Freundes- und Bekanntenkreisen. „Und Ekşi Sözlük hat bewiesen, dass die unterschiedlichsten Menschen sich einen Ort teilen können – so wie sich die unterschiedlichsten Menschen den Gezi-Park geteilt haben“, sagt er. Inzwischen ist Ekşi einer der wenigen Orte, wo sich nicht nur Leute aus verschiedenen oppositionellen Strömungen begegnen, sondern Kritiker der Regierung wie deren Anhänger. Vielleicht wird das eines Tages dazu beitragen, die gegenwärtige Polarisierung der Gesellschaft zu überwinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Neuwahlen
Beunruhigende Aussichten
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Verzicht auf Pädagogen in Bremer Kitas
Der Gärtner und die Yogalehrerin sollen einspringen