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Bier fürs Fegen in AmsterdamDie Ausgekotzten räumen auf

Dürfen Alkoholiker mit Bier entlohnt werden, wenn sie dafür die Straße fegen? Die Stadt Amsterdam unternimmt ein soziales Experiment.

Das Bier lässt er oft schon weg: Fred Schiphorst säubert den Park. Für ihn ist es mehr als eine Beschäftigungsmaßnahme. Bild: Alexander Stein

AMSTERDAM taz | Am frühen Morgen ging es Fred Schiphorst gar nicht gut. Gleich nach dem Aufstehen fing sie an, die Übelkeit. Und auf dem Weg zur Arbeit musste er sich übergeben, dreimal. Erste fachkundige Selbstdiagnose: „Ich kämpfe mit Entzugserscheinungen.“ Er hat Grund zu dieser Annahme, denn gestern hat er den ganzen Tag nicht getrunken. Zur Arbeit gekommen ist Fred Schiphorst trotzdem: „Ich bin ein Mann, der sich an die Abmachungen hält.“

Also sitzt er jetzt in der winzigen Baracke der Stiftung De Regenboog ganz am Rand von Amsterdam-Oost, wo sich die Gruppe der Straßenfeger vor der Schicht versammelt. Vorsichtig nippt er an einer Kaffeetasse. Seine 60 Jahre sieht man ihm kaum an. Fred Schiphorst hat klare blaue Augen, und das zerzauste dunkelblonde Haar ist nur an den Seiten schon etwas weiß. Der Morgen ist eiskalt. In Lederjacke und mit rot-weiß geringeltem Schal sitzt er am Tisch im Nichtraucherraum, zusammen mit den beiden Sozialarbeiterinnen, die eben schon die erste Runde Dosenbier ausgeteilt haben.

Nicht dass er aufgehört hätte zu rauchen. Aber drüben, im Raucherraum der Baracke, öffnen die anderen jetzt die blauen Bavaria-Büchsen. Fred Schiphorst aber will heute wieder nicht trinken – auch nicht während der Arbeit. Was schwierig ist, wenn die Kollegen wie er selbst Alkoholiker sind und die Bezahlung in drei Aggregatszuständen daherkommt. Fest: pro Schicht zehn Euro auf die Hand. Rauchbar: ein halbes Päckchen Tabak. Flüssig: zwei Dosen Pils vorher, zwei in der Pause, eine danach.

Typisch Amsterdam?

Die Stadt Essen zieht nach

Auch in Essen gibt es bald Flüssiges fürs Fegen: Die Ruhrgebietsstadt plant nach dem Vorbild von Amsterdam ein ähnliches Projekt für Alkoholkranke. Es soll im Frühsommer losgehen, die maximal zwölf Teilnehmer würden für das Säubern öffentlicher Plätze als Gegenleistung etwas Bargeld und Bier erhalten. Der Essener Sozialdezernent Peter Renzel (CDU) sieht dies als Chance, Suchtkranke und Mehrfachabhängige zu erreichen. Die Klienten seien ohne Alkohol nicht in der Lage, eine Arbeit aufzunehmen und durchzuhalten, begründete er seinen Vorschlag. Es könne ein Einstieg sein in weitere Hilfen – in den Ausstieg. (taz berichtete)

Zwei Jahre ist es her, dass Stadtverwaltung und Streetworker gemeinsam ein Konzept entwickelten: 19 langjährige Trinker, die für anderthalb Liter Bier am Tag gemeinnützige Arbeit verrichten. In zwei Gruppen ziehen die Sozialhilfeempfänger mit Abfallzangen aus, in einem Kiez im schmucklosen Osten der Stadt die Straßen zu säubern. Vor allem internationale Medien stürzten sich auf das Phänomen: Die einen bezeichneten es als „typisch Amsterdam“, kreativ, ein bisschen verrückt, und gaaanz liberal, die anderen fanden kaum Worte für ihre moralische Entrüstung. Niederländer dagegen regt es weniger auf.

Auch Fred Schiphorst, von Anfang an dabei, kann mit der Empörung wenig anfangen. Er selbst ist gerade „beim Abbauen“: Vom Schnaps ist er schon weg, der Rest soll folgen. Dennoch sagt er: „Alkohol ist für uns wie Medizin. Manche hier können sonst nicht funktionieren.“ 20 Jahre war er trocken, als 2002 sein Bruder starb. Das erste Bier warf ihn zurück in die Abhängigkeit, mit der Fred Schiphorst eine lange Geschichte verbindet. Als junger Marinesoldat war er einst in Norwegen und Borneo stationiert. Heimweh brachte ihn zurück in die Niederlande, sein Speedball-Konsum in eine Entzugsklinik.

Im Gang wird es jetzt unruhig. Die Kollegen aus dem Raucherraum kommen herüber. Sie holen sich ihre Greifzangen, die in einer Ecke stehen. Halb elf, Zeit zum Arbeiten. „Ich bin froh, dass ich dies tun kann“, sagt Fred. „Es ist nicht nur Beschäftigungstherapie oder eine Art, den Tag herumzubekommen.“ Dass sie ihn zum Vormann seiner Gruppe gewählt haben, einstimmig, macht ihn stolz. Er streift die orange Weste über, nimmt sich einen Müllsack und befestigt einen Ring in der Öffnung. Die Zange noch, und es kann losgehen. Wäre er ohne das Bier auch dabei? Ja, sagt er, ohne zu überlegen, und tritt vor die Tür.

„Ich liebe meine Arbeit“

Draußen geht die Stadt in Stadtrand über. Felder, von denen sich gerade erst der Nebel hebt, ein Fußballplatz, das Gelände eines Tennisclubs. Auf der anderen Seite ein Kanal, über dessen Deich sich Jogger und Radfahrer bewegen. Die Männer verteilen sich und durchkämmen die Sträucher am Wegrand. Der Wagen der städtischen Reinigungsbehörde rollt langsam auf dem schmalen Weg vorbei, die Arbeiter tragen die gleichen orangefarbenen Westen. Man grüßt sich durch die Scheiben, wie Kollegen das so tun.

Oben am Deich, etwas abseits von den anderen, geht ein kleiner Mann mit weißer Baseballmütze bedächtigen Schrittes, ein Auge auf das Gebüsch gerichtet. Er trägt beige Handschuhe und eine flauschige schwarze Jacke. Ramon Smits, 53, ist ein Surinamer mit indischen und kreolischen Vorfahren. „Ich liebe meine Arbeit“, sagt er in sanftem Singsang, und seine Worte hinterlassen eine kleine Fahne in der klaren Luft des Vormittags. „Ich bin gerne beschäftigt. Wenn ich Müll aufsammle, denke ich nicht an Bier.“ Anders als sein Vormann würde er aber ohne die tägliche Spende an Dosenbier nicht mitmachen.

Trinker raus aus dem Park

Früher war Ramon Smits Lagermitarbeiter bei Nissan. Danach war er in einem großen Amsterdamer Hotel angestellt und in der Gepäckabteilung am Flughafen Schiphol. Seit 13 Jahren trinkt er, „aber nur Bier“. Seine beiden Kinder leben in Surinam, er selbst wohnt in einem Obdachlosenheim. In einem halben Jahr, hofft Smits, kann er vielleicht ein eigenes Zimmer beziehen. Letzten Sommer bekam er einen Anruf von der städtischen Sozialbehörde, ob er bei dem Projekt mitmachen wolle. „Gerne“, habe er gesagt. „Sonst sitze ich doch nur im Park herum.“

Der „Park“ ist etwas, was alle hier verbindet. Gemeint ist nicht irgendeine städtische Grünfläche, sondern der Oosterpark hier in der Nähe, eine soziale Schnittstelle der Abfallsammler und vieler Amsterdamer Trinkerbiografien. In den frühen 1960ern entstand dort erstmals eine offene Alkoholikerszene. Die Gruppe wuchs schnell, weil sich aus anderen Stadtteilen Gleichgesinnte hinzugesellten, die dort aus den Parks vertrieben wurden.

Seit ein paar Jahren will man dem Treiben im Oosterpark ein Ende setzen. Doch selbst Alkoholverbot und eine Offensive des Ordnungsamts, das Strafzettel verteilende Beamte auf Streife schickte, kamen nicht dagegen an. Besucher des Oosterparks beschwerten sich weiterhin über ein zugedröhntes Stammpublikum, das sich manchmal lauthals stritt. „Wir sind keine lieben Jungs“, räumt Fred Schiphorst ein. „Aber es gab auch eine Wechselwirkung mit der Polizei und ihrem Knollenschreiben.“ Jetzt sind alle zufrieden: Trinker, Stadt und Polizei.

„Abfall sammeln ist auch wichtig“

„Sollen wir hier ein Zigarettchen rauchen?“, fragt Ramon Smits die Kollegen. Die Gruppe bewegt sich nun auf der anderen Seite des Kanals durch ein Gewerbegebiet. Smits bleibt am Ende eines kleinen Wasserlaufs stehen und zieht den Tabakbeutel aus der Tasche. „Es ist wichtig, dass du etwas bedeutest in der Gesellschaft“, philosophiert er. „Ich muss kein Doktor oder Arzt sein, Abfall sammeln ist auch wichtig. Jeder hat seine Aufgabe.“ Er ist sich sicher: „Ich würde dies gerne weitermachen.“

Mitstreiter Vincent De Graven dagegen hat andere Pläne. „Ich hoffe schon, dass ich noch mal einen Job finde“, sagt der Mittvierziger mit den langen Rastas unter dem Turban. Bis es so weit ist, findet er anderes: Gerade hat er ein iPhone mit zerkratztem Bildschirm aus dem Gebüsch gefischt. „Neulich hatte ich eins, das ging sogar noch. Und ein anderes Mal fanden wir einen Karton Damenwäsche im Graben. Vom Laster gefallen – den wollte jemand dort abholen.“

Es gibt Grundbedürfnisse

Vormann Fred Schiphorst hat den vollsten Sack, als die Gruppe zur Mittagspause wieder bei der Baracke ankommt. Drinnen erwartet sie Janet van der Noord, eine der Mitarbeiterinnen der Sozialstiftung De Regenboog, die das Projekt begleitet. In ihrer Stimme liegt eine raue Herzlichkeit, die man in dieser Stadt öfter antrifft. „Schat“, Schatz, nennt sie die Männer mit den Greifzangen gerne. Früher hat Janet van der Noord als Managerin in gehobener Position bei amerikanischen Firmen gearbeitet, und niemand wusste davon, dass sie kokainabhängig war. Nach ihrem Entzug beschloss sie, anderen Suchtkranken zu helfen – „weil ich weiß, wie Sucht funktioniert“.

Es ist ihre Vorgeschichte, die Janet van der Noord eine ganz eigene Perspektive auf die Arbeit gibt. Einerseits lehrt sie die Erfahrung: „Nur völlige Abstinenz hilft, Sucht zu überwinden.“ Tief in ihrem Herzen wisse sie, dass man mit Abhängigkeit nicht glücklich sein kann. „Doch die Praxis“, sagt sie, „ist anders“. Sie erzählt von Grundbedürfnissen, dem Gefühl von Sicherheit, sozialer Zuwendung und Anerkennung. „Diese Menschen wurden von der Gesellschaft ausgekotzt. Da muss man erst Vertrauen aufbauen. Manche haben nicht einmal eine Wohnung, wenn sie hier anfangen.“ Alkoholfrei, wenn überhaupt, könnten die Männer erst später werden, sagt sie.

Sicher ist sich Janet van der Noord vor allem einer Sache: „Ohne Bier bekäme man diese Gruppe nicht aus dem Park.“ Im Stadthaus scheint man zu einem ähnlichen Fazit gelangt zu sein. „Hier“, sagt Fred Schiphorst, und deutet auf die Gratiszeitung, mit der er sich am Tisch niedergelassen hat. „Das erfolgreiche Straßenfegerprojekt Oost soll verlängert werden.“ Ohne Stolz sagt er das nicht. Aus dem Nebenraum hört man, wie die Laschen der Pilsdosen aufgezogen werden. Fred Schiphorst hat eine neue Tasse Kaffee vor sich. Für den Rest der Schicht wird er dabei bleiben.

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2 Kommentare

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  • eine sehr fortschrittliche Therapieform,

    wird in guten Kliniken auf den Stationen für Abhängigkeiterkrankungen schon ein paar Jahre angewand...,

     

    danke

  • 7G
    738 (Profil gelöscht)

    Ich glaube nicht, dass es ein solches Projekt in Deutschland durch die Gremien der Sozialromantiker und Bedenkenträger geschafft hätte. Wirklich ein ungwöhnlicher Ansatz, aber vielleicht die einzige Möglichkeit diesen Menschen zu helfen.