750 Jahre Schöneberg: Kennedy inmitten der Kiezgrößen
Im Haus am Kleistpark wird die wechselvolle Geschichte des Bezirks mit Foto- und Filmdokumenten nachgezeichnet.
Lässig steht der kleine Junge im Mantel neben einem Baum und grinst frech in die Kamera. Sein rechter Fuß ist übermütig ausgestellt, die Ohren stehen vom Kopf ab. Ein Schnappschuss aus Schöneberg, vermutlich aufgenommen um 1905. Gerne würde man mehr über den Jungen und das Foto wissen. Doch auf der Bildrückseite steht nur mit schwarzer Tusche „Kurt am Wittenbergplatz“ – mehr nicht. Der anonyme Kurt aus dem Archiv der Museen Tempelhof-Schöneberg ziert dennoch die Einladungskarten der gleichnamigen Ausstellung – sein verschmitzter, den Betrachter direkt ansprechender Blick steht für den Blick auf die ganz normalen Leute und den Alltag des Bezirks, der hier im Vordergrund steht.
Die Schau im Haus am Kleistpark ist eine Hommage an 750 Jahre Schöneberg – gemeint ist Alt-Schöneberg samt seinem in den 1870ern erbauten Ortsteil Friedenau, aber ohne Tempelhof, das seit der Gebietsreform 2000 zum selben Großbezirk zählt.
„Kurt am Wittenbergplatz“ ist eine fotodokumentarische Zeitreise – und ebenso facettenreich und lebensprall wie der Bezirk. Mehr als 160 Fotografien aus der Zeit von 1875 bis zur Gegenwart und rund 70 Minuten Film hat die Kuratorin Katharina Hausel aus dem Landesarchiv Berlin und dem Archiv der Museen Tempelhof-Schöneberg zusammengetragen. Neben bekannten Namen wie Max Krajewski oder Fritz Eschen sind zahlreiche Fotografinnen und Fotografen vertreten, deren Bilder über den seit 1994 jährlich stattfindenden Foto-Wettbewerb des Kunstamts Tempelhof-Schöneberg Eingang in die Archive fanden.
Unbekannt ist dagegen der Fotograf der Aufnahme eines Schöneberger Hinterhofes Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Ein Porträt der Familie Paul Sarre, ernst blickt sie in die Kamera. Die Männer auf dem sepiagefärbten Schwarz-Weiß-Foto tragen Schlachterschürzen, der kleine Junge auf dem Arm seiner Mutter stößt mit der Wange fast an die Schweinehälften, die an Haken unter freiem Himmel aufgehängt sind – im Vordergrund ein paar noch lebende Schweine und ein Kutschpferd.
Die Ausstellung
"Kurt am Wittenbergplatz" ist der Titel der Ausstellung, "eine Zeitreise durch Schöneberg in Fotografien und Filmen", auf die man sich bis 25. Mai im Haus am Kleistpark, Grunewaldstraße 6-7, begeben kann. Di.-So. 10-19 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Neben diesem Foto hängen Ansichten des Gasometers aus verschiedenen Perspektiven aus einer Serie des bekannten Stadtfotografen Karl Ludwig Lange – und festlich gewandete Damen und Herren, die sich im Tanz drehen: Der Abschlussball der 1. Internationalen Filmfestspiele 1951 im Ausflugslokal „Prälat Schöneberg“.
Gezeigt wird auch das avantgardistische, das weltoffene Schöneberg: Das Neue Bauen der Zwanziger Jahre, verwirklicht in den Ceciliengärten, der in den Zwanziger Jahren eröffnete Schwulenclub „Eldorado“ in der Motzstraße mit seinem italienisch anmutenden Innendekor – daneben derselbe Club nach seiner Schließung 1933, bewacht von uniformierten Nazis: „Wählt Hitler“ steht auf den Bannern, die aus den verrammelten Fenstern hängen. Lange ließ sich die Subkultur allerdings nicht vertreiben. Von 1947 stammt ein Foto aus dem Jazzclub „Neger-Bar“ in der Bülowstraße, auch Pinguin genannt, der von schwarzen Deutschen betrieben wurde.
Auch das ärmliche, proletarische Schöneberg gibt es: die beengten Wohnblocks für Kriegsflüchtlinge am Grazer Damm, die an Teppichstangen hängenden Hinterhofgören, die noch in den 70ern aussahen wie von Zille fotografiert, Huren, Obdachlose und Junkies. Die Dokumente zeigen, wie nah diese Kiezgestalten immer wieder vom Mantel der Weltgeschichte gestreift werden: Im Sportpalast, in dem die SPD 1933 noch mal eine Wahlkampfveranstaltung abhielt und Goebbels 1943 zum „Totalen Krieg“ aufrief, pfiff die zahnlose Kiezgröße „Krücke“ 1962 den Sportpalast-Walzer – ein Filmdokument zeigt ergänzend zu den Fotos den Abriss der maroden Halle 1973 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung.
Immer wieder Geschichte: Man sieht die Schöneberger als erregte Menschenmenge vor dem Alten Rathaus beim Kapp-Putsch 1920, man sieht sie, wie sie 1948 begierig an den Lippen eines RIAS-Nachrichtensprechers hängen, der mitten auf der Straße die Nachrichten vorliest – weil eine Stromsperre den Rundfunk behindert. Man sieht sie 1953 familienweise ihrem toten Bürgermeister Ernst Reuter die letzte Ehre erweisen, 1963, wieder vor dem Alten Rathaus, John-F-Kennedy bei seiner berühmten „Ich bin ein Berliner“-Rede zujubeln – und sich 1967 beim Protest gegen den Schah-Besuch vor Polizei-Knüppeln ducken.
Große Ereignisse und Personen bilden in dieser Ausstellungen allerdings nur den Hintergrund, vor dem die vielen namenlosen Helden des Alltags agieren. Die U-Bahnbauer von 1908, die von Hand Gräben ausheben, die Dienstmädchen, die man in einer Filmsequenz von 1929 auf dem Wochenmarkt für ihre Herrschaft einkaufen sieht. Die Alternativen vom KOB und vom Frauenladen in der Potsdamer Straße.
Um zu begreifen, welche Wendungen dieser traditionsreiche Westberliner Innenstadtbezirk durchlebt hat, muss man sich nur in die Mitte der drei Ausstellungsräume stellen und den Blick von einer Seite zur anderen wenden: Links eine junge Frau mit Kopftuch, die gerade ihren Wocheneinkauf beim türkischen Großmarkt an der Ecke Pallas-Straße erledigt hat. Rechts ein ernst dreinblickender Herr mit großem Schnäuzer im Auguste-Viktoria-Krankenhaus, seine Arme und Beine festgeschnallt in kleinen Elektrotherapie-Becken, hinter ihm ein Arzt, der am Regler dreht. Und dazwischen? Ein Junge auf dem Fahrrad, der auf den frisch begrünten „Insulaner“ schaut – ein Trümmerberg, von dessen Existenz der schnurrbärtige Patient der Jahrhundertwende noch nichts ahnte. Und dessen Entstehungsgeschichte der jungen Migrantin vermutlich unbekannt ist.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!