Europawahlen in Bremen: "Es ist ein echtes Parlament"
Bremens derzeit einzige Europa-Abgeordnete verteidigt die Ehre des Europa-Parlaments und wundert sich über die große Zahl der Putin-Versteher.
taz: Frau Trüpel, was sagen Sie den stets europawahlmüden Bremern, damit sie wählen?
Helga Trüpel: Ich sage, dass man, gerade angesichts der vielen Länder, wo es keine freien Wahlen gibt, dieses Recht nicht einfach aufgeben darf. Und ich erinnere daran, dass im Europaparlament viele Richtungsentscheidungen anstehen, über Klimapolitik, Energiepolitik und Außenpolitik – bis hin zur Frage, wer Kommissionspräsident wird…
Treibt die nicht gerade die Leute weg von den kleinen Parteien in die großen Lager?
Ich glaube, dass aufgeklärte WahlbürgerInnen großes Interesse an den inhaltlichen Fragen haben. So viel Weitblick müssen Sie den WählerInnen schon zutrauen.
Wen wähle ich denn als Kommissionspräsidenten, wenn ich Grüne wähle?
Unsere SpitzenkandidatInnen sind José Bové und Ska Keller.
Jaja. Aber die haben ja keine realistische Chance!
Ach, das ist doch wie bei der Bundestagswahl. Da gibt es auch genügend Leute, die kleinere Parteien wählen – obwohl die nicht die Bundeskanzlerin stellen.
53, Literaturwissenschaftlerin, ist seit 2004 Abgeordnete der Grünen im Europaparlament. Dort ist die Bremer Kultursenatorin a.D. Mitglied des Haushalts- sowie Vize-Vorsitzende des Kultur- und Bildungsausschusses.
Bei der Aufstellung der KandidatInnenliste setzte sie sich im Februar gegen die Junggrüne Terry Reintke und die Fecht-Olympionikin Imke Duplitzer durch.
Aber da will man auch die Bündnisoptionen kennen.
Ich denke, wer weniger Massentierhaltung will, weniger industrielle Landwirtschaft und keinen Kernfusionsreaktor, und wer es für wichtig hält, die Reform der Fischereipolitik voranzutreiben – hat gute Gründe uns zu wählen. Denn es geht bei den Europawahlen immer mehr um die inhaltlichen Ziele…
…was ja daran liegt, dass es keine stabilen Mehrheiten gibt, woran neulich erst das Bundesverfassungsgericht erinnert hatte: Schwächt das Urteil die Wahlbeteiligung zusätzlich?
Zum Einen: Es gibt stabile Mehrheiten. Die sind tragfähig, wenn es darum geht, Gesetze zu verabschieden, und das müssen sie auch sein. Dass die Wahlbeteiligung infolge des Urteils zurückginge, erwarte ich eher nicht – es hat ja für kleine Parteien und Gruppierungen die Chance erhöht, reinzukommen. Aber richtig ärgerlich daran finde ich, dass die Richter das Europaparlament abgewertet haben.
Inwiefern denn abgewertet?
Na eben, dass es kein richtiges Parlament sei, dass es nicht auf die Mehrheitsentscheidungen ankäme. Das hatte so einen Zungenschlag, den ich nicht für gerechtfertigt halte.
Naja, wenn eine Luxemburger Stimme zehnmal so viel zählt wie eine deutsche, entspricht das daraus sich ergebende Plenum eher so etwas wie einer Länderkammer als einem Parlament…
Aber der Größenunterschied bleibt doch abgebildet. Wenn man die großen Staaten genauso gewichten würde wie die kleinen, würde einfach die Institution zu riesig. Diese Regelung, wie wir sie jetzt haben, verteidige ich.
Sie bleibt undemokratisch.
Es ist eine gewichtete Entscheidung, eine Gewichtung, die zwischen kleinen und großen Staaten vermittelt. Das hat nichts mit der Frage zu tun, ob es sich um ein echtes Parlament handelt.
Wahr ist ja, dass die Mehrheiten sich in der Außenpolitik stark stabilisieren, etwa in der Ukraine-Frage: Haben sich die Grünen da zu flott in die Phalanx einsortiert?
Wir Grünen haben eine große Empathie mit der Freiheits- und Demokratiebewegung in der Ukraine. Es gibt dabei eine dezidierte Kritik an rechten Kräften wie Swoboda oder dem „Rechten Sektor“, deren Rolle aber oft übertrieben dargestellt wird.
Vergisst man dabei nicht, die eigene Rolle zu hinterfragen, also ob die EU durch ihre Osterweiterung auch Mitverursacherin des Konflikts sein könnte?
Das sehe ich überhaupt nicht so. Ich verstehe auch dieses Denken in Einflusszonen nicht: Das sind doch Kategorien des vorletzten Jahrhunderts!
Wir sind Russland schon ganz schön auf die Pelle gerückt.
Die Osterweiterung war kein aggressiver Akt der EU. Sie beruht auf unabhängigen Entscheidungen souveräner Staaten – und zwar von Staaten, die endlich nach der Okkupation durch die Nazis und nach der Okkupation durch die Sowjets autonom geworden sind. Gerade in diesem Zusammenhang ist es doch erschreckend, wenn Wladimir Putin sagt, der Untergang der Sowjetunion sei die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen. Das ist doch unsäglich!
So was ist aber durch die gleichzeitige NATO-Osterweiterung befeuert worden?!
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Man müsste verlangen, dass Putin Sicherheitsgarantien für die territoriale Integrität der Ukraine ausspricht, wenn er verhindern will, dass sie bei der Nato Schutz sucht. Denn während es keine Bedrohung Russlands gibt, gibt es Übergriffe von Russland – unter dem Vorwand, russische Landsleute in Nachbarstaaten schützen zu müssen.
Über dieser Krise sind die inneren Probleme der EU etwas aus dem Fokus geraten. Das kann kein Dauerzustand sein.
Natürlich nicht. Diese Probleme werden bearbeitet – der Bankenabwicklungsfonds ebenso wie die Auseinandersetzung darüber, ob wir einen Altschuldentilgungsfonds brauchen, wofür wir Grünen ja vehement eintreten. Es ist aber vielleicht gut, dass sich die EU durch diesen Konflikt auf ihre tragenden Werte besinnt, die sie zusammenhalten.
Welche Ziele haben Sie für die kommenden Legislatur?
Es ist zum Glück gelungen, den Bildungsetat um 40 Prozent aufzustocken. Gefordert hatten wir da ursprünglich mehr. Jetzt werde ich sehr genau kontrollieren, dass diese Gelder auch für den vorgesehenen Zweck verwendet werden. Da liegt mir sehr viel dran. Zudem werden wir als Grüne alles daran setzen, dass die CO2-Reduktionen weiter ausgebaut werden. Und wir machen uns besonders für die Nachhaltigkeit der Fischereipolitik stark, also dass die Fischbestände der afrikanischen Staaten nicht weiter ausgeplündert werden.
Damit wollen Sie in Bremen und im Fischereistandort Bremerhaven punkten?
Ja, sicher. Wo kein Fisch ist, kann man mit Fischerei auch keine Gewinne mehr erzielen. Das hat die Branche längst verstanden. Und es ist nun endlich gelungen, dieses Denken auf europäischer Ebene zu verankern, dass man zu einer ökologischen Grundhaltung kommen muss. Das ist keine Politik gegen Bremer Interessen – sondern ganz in ihrem Sinne.
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