: Die Rettung des Geschmacks sollte vom Kunsthandwerk kommen
ALLESKÜNSTLER Eine große Ausstellung in Weimar zeigt Henry van de Veldes Beitrag zur europäischen Moderne
VON RONALD BERG
Das Jahr 2013 ist Van-de-Velde-Jahr. Mit dem vor 150 Jahren in Antwerpen geborenen „Alleskünstler“ hat Thüringen auch dieses Jahr wieder einen Patron für sein Tourismusmarketing gefunden. Über die „Impulsregion Erfurt-Weimar-Jena“ über Gera und Apolda bis ins sächsische Chemnitz zieht sich diesjährig ein Reigen von anderthalb Dutzend Ausstellungen mit Bezug zu Henry van de Velde. Der Flame kam 1902 nach Weimar und lebte und arbeitete hier 15 Jahre. Van de Velde entwarf im Grunde für alle Bereiche des Lebens von der Kuchengabel, über Tapeten, Möbel, Kleider, Schmuck, Bücher bis hin zu imposanten Villen für betuchte Kunden, die er aus einem Guss samt Einrichtung bis ins kleinste Detail als Gesamtkunstwerk inszenierte.
Van de Velde ist bisher vor allem als ein Mann des Übergangs in Erinnerung geblieben. Er stand in seinem ästhetischen Ausdruck zwischen dem Historismus, den er überwand, und dem International Style der Moderne, der er selbst nicht mehr angehörte, obwohl er ihn als Zeitgenosse miterlebte. Van de Velde starb 1957 mit 94 Jahren. Die in jeder Hinsicht besten Jahre des Künstlers fallen in die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg. Es ist die Zeit, da van de Velde zuerst in Berlin und dann in Weimar aktiv wird. Besonders Weimar sollte der Ort für das „Apostolat“ seiner neuen Ästhetik werden, wie er es nannte. Van de Velde wollte den Menschen mit schönen und zweckmäßigen Dingen nicht nur von der Hässlichkeit erlösen, sondern auch moralisch erziehen.
Im Weimarer Neuen Museum ist von diesem Sonntag an die zentrale Ausstellung des Van-de-Velde-Jahres zu sehen. Mit 700 Objekten präsentiert die Klassik Stiftung Weimar als Veranstalter eine Schau des Lebenswerks des Künstlers.
Weimar und van de Velde, das war im Grunde genommen ein Missverständnis. Van de Velde wurde auf Empfehlung von Harry Graf Keßler und Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester des Philosophen, durch den Großherzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach als Berater nach Weimar berufen. Dem Herzog ging es nicht um ästhetischen Fortschritt, sondern um den Aufschwung des Kunsthandwerks im Lande, das zunehmend nicht mehr konkurrenzfähig war. Die beiden anderen Förderer van de Veldes hatten ein „neues Weimar“ im Sinn, eine idealistische Fortschreibung des Klassikerorts als Modell für eine „neue Zeit“, zu deren Prophet Friedrich Nietzsche stilisiert wurde.
So kam es, dass van de Velde nicht nur das Weimarer Nietzsche-Archiv in Jugendstilformen neu gestaltete, sondern auch zum Gründer einer Kunstgewerbeschule wurde, dessen Gebäude er gleich selbst baute, wie die Werkstätten der nebenan beheimateten Kunstschule. Die Gebäude gehören heute zur Bauhaus Universität Weimar, sind für die Öffentlichkeit zugänglich und spielen ihren Part im Van-de-Velde-Jahr. In der 1908 fertiggestellten Kunstgewerbeschule präsentiert aktuell ein Studentenprojekt 70 der 184 Architekturprojekte van de Veldes. 24 Bauten sind als Computersimulation zu besichtigen.
Als Glücksfall entpuppt sich, dass nun auch das Haus Hohe Pappeln seit dem letzten Jahr zur Klassik Stiftung gehört und zur Besichtigung offen steht. Van de Velde errichtete das Wohnhaus 1906 für seine siebenköpfige Familie. Zwar ist die fehlende originale Ausstattung durch ähnliche Möbel van de Veldes ersetzt worden, aber die räumliche Wirkung von Haus und Garten und die vielen Details des Gebäudes legen doch beredtes Zeugnis für die ästhetische Haltung des Planers und Bauherrn ab.
Mit den mächtigen Mansardendach und seinen Travertinquadern von außen eher trutzig erscheinend, überrascht das Haus im Inneren sowohl mit weiten Räumen wie mit vielen verkruschelten Ecken. Räume und Möbel bildeten einst eine Einheit. Vom Plunder historisierender Formen ist nichts zu sehen, stattdessen gibt sich das Haus individualistisch und verspielt. Ein schlauchartiger Flur als Entree, belgische Fensterformen als Reminiszenz an die alte Heimat, ein zur Wohndiele offener Salon, eine Sitzecke unter der Treppe mit einem aus der Fassade gestülpten Erker zur Beleuchtung, mit solchen Gestaltungselementen und vielen Detaillösungen vom Türgriff bis zum Treppenpaneel baut van de Velde einen ästhetischen Privatkosmos, der nur in handwerklicher Einzelanfertigung zu bewerkstelligten ist.
Van de Velde, der als Maler begann, blieb im Grunde stets Künstler, auch als er sich ab 1892 ganz dem Kunstgewerbe zuwendet und auch zum Architekten wird. Van de Velde ist stets originell, aber keines seiner unzähligen Gebrauchsobjekte wurde je in serieller Massenproduktion hergestellt. Van de Velde weigerte sich. Die Rettung des Geschmacks sollte vom Kunsthandwerk kommen. Van de Veldes abstrakte Jugendstillinien führten damit im Grunde in die Sackgasse: Eine moderne Massengesellschaft verlangt nach industrieller Massenproduktion. Van de Velde bevorzugte Maßkonfektion.
Letztlich scheiterte van de Veldes Mission in Weimar aber eher am reaktionären Geist der provinziellen Residenzstadt und ihren intriganten Neidern. 1914 kündigte van de Velde seine Stellung als Direktor der Kunstgewerbeschule. Der Weltkrieg führte dazu, dass er – obwohl nun als feindlicher Ausländer geschmäht – Weimar tatsächlich erst 1917 in Richtung Schweizer Exil verlassen konnte.
Die Weimarer Schau bemüht sich jetzt, van de Velde als Universalkünstler und modernen Formerfinder darzustellen. Dennoch: Van de Velde bleibt ein Mann des Übergangs. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte er nicht mehr zur Avantgarde. Die neue Zeit ließ andere Figuren reüssieren.
Umso bemerkenswerter ist es, dass die Galionsfigur der neuen Epoche ein Mann war, den van de Velde schon 1915 als seinen Nachfolger in Weimar empfohlen hatte: Er hieß Walter Gropius. 1919 vereinigte Gropius die Weimarer Kunstschule mit der Kunstgewerbeschule und nannte das neue Lehrinstitut Bauhaus.
Wenig bekannt ist, dass auch van de Velde in den zwanziger Jahren selbst noch einmal eine Schule leitete. 1926 eröffnete in Brüssel das Institut Supérieur des Arts Décoratifs, genannt La Cambre, nach seinem Domizil in einem alten Kloster. Die Schule existiert in verändertem Zuschnitt bis heute. Internationalen Einfluss wie das Bauhaus, nach dessen Vorbild die Schule aufgebaut war, hat sie zu keiner Zeit besessen.
In der Zwischenkriegszeit kam van de Velde bezeichnenderweise dort am besten zum Zuge, wo es wieder um die Einrichtung komplett durchgestylter Umwelten ging. Wo könnte das besser passieren als bei Hochseeschiffen oder bei der Inneneinrichtung von Eisenbahnen? Es sind Welten im Kleinen, mit wenig Kontakt nach draußen. Hier ließ sich noch am ehesten der Traum vom Gesamtkunstwerk verwirklichen.
Van de Velde war ein Prophet des neuen Stils, und deshalb eine polarisierende Figur, die viele Feinde und Neider hatte, aber auch viele Gönner und Fans. Was Letztere beeindruckt haben mag, ist van de Veldes Glaube, dass Schönheit – gepaart mit Zweckmäßigkeit und konstruktiver Ehrlichkeit – die Welt verbessern könne. Der Glaube an seine Mission sorgte bei van de Velde für einen riesigen kreativen Output. Van de Velde entwarf, er agitierte für sein Ziel in zahlreichen Schriften, er administrierte seine Lehrinstitute, daneben widmete er sich seiner großen Familie (und seinen Geliebten). Wie er das alles schaffte, trotz ständiger Anfeindungen – mal als Belgier in Deutschland, mal als Deutscher in Belgien – bleibt immer noch ein großes Rätsel. Angesichts der in Weimar und Umgebung jetzt anzutreffenden Fülle kommt man aus dem Staunen kaum noch heraus.
■ „Leidenschaft, Funktion und Schönheit – Henry van de Velde und sein Beitrag zur europäischen Moderne“: Neues Museum, Weimar, vom 24. März bis 23. Juni.
Katalog 39,90 Euro www.klassik-stiftung.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen