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Tagung zum Ersten WeltkriegWillkommen zurück im Jahr 1914

Historiker streiten in Belgrad über die Ursachen des „großen Krieges“. Dabei ist Christopher Clark. Seine Thesen zur serbischen Mitschuld sind umstritten.

Gavrilo Princip, der Attentäter von Sarajevo, wird noch heute in Belgrad verehrt. Bild: dpa

BELGRAD taz | Ohne einen kleinen Schritt auf die Gastgeber zu ging es nicht. „Ich habe nie gesagt, dass Serbien ein Schurkenstaat war“, sagte der australische Historiker Christopher Clark am Samstag in der serbischen Hauptstadt Belgrad und wollte so dem Vorwurf zuvorkommen, in seinem viel diskutierten Buch „Die Schlafwandler“ habe er Serbien die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg gegeben. „Das habe ich nie geschrieben“, sagte er.

Tatsächlich gab es in Serbien wütende Reaktionen auf das Buch. Wochenlang beschäftigten sich die Medien mit Clarks Thesen zum Expansionsstreben des jungen serbischen Königreichs und über eine Mitwisserschaft der Regierung am Mord an dem österreichisch-ungarischen Thronfolger. Einer Vorstellung Clarks bedurfte es auf der internationalen Konferenz „The European Tragedy of 1914 and the Multipolar World of 2014: Lessons Learned“ daher nicht.

Fast 30 renommierte WissenschaftlerInnen waren der Einladung des Center for International Relations and Sustainable Development gefolgt, des Thinktanks des ehemaligen serbischen Außenministers Vuk Jeremic. „Wir brauchen einen neuen Blick auf 1914, um heutige Konflikte verstehen zu können“, erklärte Jeremic in der Eröffnungsrede.

Noch heute stehe man im Schatten der Geschehnisse des Ersten Weltkrieges, die aktuellen Konflikte und Akteure unterschieden sich kaum von den damaligen. Bereits vor 100 Jahren war die Ukraine eine Schlüsselregion im Kampf um die Hegemonie – genauso wie der Balkan. „Wir sind wieder zurück in 1914, es geht um die Vorherrschaft in Europa“, sagte Dominic Lieven. Den Krieg sieht der Cambridge-Professor darin begründet, dass das Machtverhältnis aus dem Gleichgewicht geraten ist im Kollaps der multiethnischen Imperien, in dessen Folge ein neuer Nationalismus wütete.

Deutsche „Weltherrschaft“

Ganz ohne die Schuldfrage kam das Podium in Belgrad aber nicht aus. Der Historiker Hartmut Pogge von Strandmann, Schüler des Historikers Fritz Fischer, erläuterte dessen Thesen. Fischer brachte 1961 die These auf, die deutsche Führung habe den Krieg provoziert, um zur „Weltherrschaft“ zu gelangen. „Es ist das Thema der Elite, wie Deutschland nach dem Krieg die Welt dominieren würde“, meinte Pogge von Strandmann.

Christopher Clark konterte, es gäbe keine Beweise dafür, dass die deutsche Führung vor 1914 einen Krieg geplant habe. „Fischer war nur an Deutschland interessiert“, kritisierte er im Hinblick auf die komplexe Gemengelage: Für Clark sind die Balkankriege wichtiger für die Fragmentierung des europäischen Friedens. Er zitierte aus einem Brief, in dem die russische Führung Serbien aufforderte, sich nach Bosnien zu orientieren. Die Zukunft nämlich läge in Österreich-Ungarn. Ob dies eine Anspielung auf die serbische Rolle in Sarajevo war?

Von Clarks zurückhaltenden Ausführungen fühlte sich Dusan Batakovic provoziert. Der Vorsitzende des Belgrader Instituts für Balkanstudien der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, einer nationalen Kaderschmiede, nahm die oft vergessene Ostfront in den Fokus. Der Krieg wurde schließlich an der Saloniki-Front entschieden, und Serbien hatte die meisten Opfer im Ersten Weltkrieg zu verzeichnen: ein Viertel der Bevölkerung starb. Der Erste Weltkrieg habe demnach bereits mit der Annexion Bosniens 1908 begonnen. „Das ist der Beginn des genozidalen Zeitalters“, sagte Batakovic und verwies auf Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee.

Rassistische Wortwahl

Den Attentäter Gavrilo Princip nennt Batakovic einen „Nelson Mandela mit falschen Mitteln“. Für ihn und die Gruppe „Junges Bosnien“ seien die Österreicher barbarische Kolonialherren gewesen – eine Lesart, die im heutigen Serbien gängig ist. Princip gilt dort, anders als in Bosnien, als Volksheld. Batakovic schloss sich diesem nationalen Narrativ an. „Sie behandelten die Serben wie Nigger im Kongo“, sagte er.

Von der Schwarz-Weiß-Malerei und der rassistischen Wortwahl zeigt sich im Belgrader Hotel Metropol Palace kaum jemand befremdet. Dem Gastgeber will offenbar niemand auf die Füße treten. Schließlich antwortete Günther Kronenbitter von der Universität Augsburg: „Versuchen Sie, sich in andere Gruppen zu versetzen“, sagte er. „So jedenfalls kommen wir zu keiner gemeinsamen europäischen Erinnerung.“

Was also hat man aus dem Ersten Weltkrieg gelernt? Nicht viel. Auch 100 Jahre danach fällt es vielen schwer, andere Perspektiven zu akzeptieren, umso mehr, als die Konfliktlage heute ähnlich ist. „Das Imperium EU führt einen verlorenen Kampf gegen den Nationalismus“, sagte der Historiker Vojislav Pavlovic – und bemerkte seinen Versprecher gar nicht – er meinte das Imperium der k. u. k. Monarchie. Denn es ging nicht um das Erstarken der Rechten in der EU, sondern um den Nationalismus, der Österreich-Ungarn zu Fall brachte und neue, nationale Konflikte schürte. Geschichte wiederholt sich zwar nicht. Aber Pavlovic’ Versprecher hat doch einiges an Wahrheit in sich.

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