Theatergründer Winfried Wrede über Nachwuchsförderung: „Es gab nicht diese Existenzangst“
Junge Bühnenkünstler brauchen Raum, um freies, experimentelles Theater zu verwirklichen. Den gibt ihnen Winfried Wrede im Oldenburger "Theater Wrede +".
taz: Herr Wrede, gibt’s in der Digital-Zeit noch junge Theaterleute?
Winfried Wrede: Oh ja. Es ist gibt sogar ein riesiges Bedürfnis für Theater, wahrscheinlich gerade wegen der Digitalisierung: Durch neue Techniken ändert sich unsere Wahrnehmung.
Was hat das mit Theater zu tun?
Theater als gesellschaftsbezogene Auseinandersetzung muss ausloten und reflektieren, wie sich unsere Kommunikation, unsere Wahrnehmung verändert. Dafür gibt es theatrale Forschung. Und für die gibt es ein großes Bedürfnis gerade bei den jungen Leuten.
Für die haben Sie „Flausen“ erfunden, ein Förder-Programm …
… da gab es ja bislang nichts Vergleichbares: Ich wollte genau für das sorgen, was mir als junger Künstler am dringendsten gefehlt hat: ein geschützter Raum zum Erproben von neuen, gewagte Ideen. Das ist Flausen.
Wie viele Gruppen bewerben sich da denn so?
Allein in diesem Jahr waren es 130. In der ersten Runde verlangen wir deshalb keine umfangreiche Bewerbung. Die jungen Künstler haben genug mit Verwaltung und Antragschreiben zu tun, sie sollen da keine große Arbeit hineinstecken – außerdem stünde das ja in keinem Verhältnis zur Platzzahl.
58, ist Gründer und künstlerischer Leiter des Forschungs- und Produktionstheaters "Theater Wrede +" in Oldenburg. Dort entwickelt und erkundet er neue Theaterformen wie das "komponierte Theater", führt Regie und arbeitet als Autor, Musiker und Performer. Mit "Flausen - young artists in residence" initiierte Wrede ein Forschungsstipendienprojekt für professionelle Nachwuchskünstler der darstellenden Kunst, das eine vierwöchige Residenz beinhaltet. Mitinitiator des niedersächsischen Verbundes der professionellen Produktions- und Spielstätten, dem neben Wrede + das Lot und die Kunstmühle Braunschweig, die Theaterwerkstatt und die Eisfabrik Hannover sowie das Theaterhaus Hildesheim angehören, kooperiert Wrede seit 2003 mit dem Presentation House Theatre Vancouver und lehrt als Dozent für Performing Arts an der University of Alberta.
Vergeben werden Residenzen hier in Oldenburg, aber auch in Spielstätten in Nordrhein-Westfalen.
Ja, diesmal waren es immerhin sechs, doppelt so viele wie 2013. Aber sechs für 130 – das ist ja fast wie Lotto spielen.
Aber wenn Sie keine Bewerbungsunterlagen anfordern, was bleibt Ihnen denn dann, als die Plätze zu verlosen?
Gelost wird nicht!
Sondern?
Es gibt zwei Auswahlrunden mit unterschiedlichen Anforderungen: Die Vorjury wählt Gruppen aus, diesmal waren das 18 Gruppen, die dann zum Final Choice eingeladen wurden. Für diese zweite Runde müssen die Bewerber einen ausführlichen Arbeitsplan erstellen, dann reisen sie an und stellen der Endjury, die aus Förderern und Fachleuten besteht, ihr Forschungsprojekt vor, danach gibt es noch ein Gespräch. Aber für die Vorjury müssen die Gruppen nur ein Formular ausfüllen, vier Antworten auf vier Fragen.
Und zwar?
Wichtig ist, dass man seine Forschungsidee formuliert. Nach der fragen wir. Dann spielt für uns das Risiko eine Rolle, also: Ist die Idee gewagt? Eine Frage lautet: Warum ist eine Forschungsresidenz in eurer künstlerischen Situation wichtig? Und dann interessiert uns: Du hast vier Wochen Zeit: Für welche Schritte willst du die Residenz nutzen.
Damit am Ende eine spannende Aufführung steht?
Nein, um herauszubekommen, welche der Künstler einen besonderen Impuls brauchen. Da geht’s um die Dringlichkeit des Anliegens. Denn am Ende steht keine Aufführung, sondern ein öffentliches Making-of.
… also eine Präsentation?
Das klingt zu sehr nach Produktion. Die Künstler nehmen uns mit auf ihre Forschungsreise. Welche Fragen wurden gestellt, und sie zeigen, was ausprobiert wurde – eine Art Werkstattgespräch. In der Residenz sollen die Gruppen ihre Möglichkeiten testen, sich auf Neues einlassen, ihren Stil hinterfragen, Arbeitsweisen erkunden – in die Breite arbeiten, ohne Druck, am Ende etwas Fertiges abliefern zu müssen.
Einfach so?
Wir haben strenge Auflagen: Es gibt eine Anwesenheitspflicht, Nebenbeschäftigungen sind nicht erlaubt. Sonst wäre es schnell vorbei mit der Konzentration, die man fürs Forschen braucht. Heute ist das Zeitkorsett bei Produktionen so eng, da bleibt fürs Ausprobieren kein Raum mehr. Wenn man aber nicht mehr experimentieren kann, wird’s problematisch. Dann bleibt nur die Flucht in die Gefälligkeit. Dann kann man nicht mehr scheitern.
Man könnte meinen, dass manche das anstreben?
Aber Theater ist doch Wagnis! Scheitern, wieder scheitern, besser scheitern – hat Sam Beckett gesagt: Wenn das Risiko weg ist, ist die Kunst tot. Als wir hier das Gebäude bezogen haben …
… vor fünf Jahren …
… haben wir damals auch unseren künstlerischen Standort neu bestimmt. Im Namen Wrede ist das Wort „Red“: Im Englischen steht es für Rot, also Leidenschaft, im Spanischen für „Vernetzung“, das + kennzeichnet, dass hier mehr als nur eine Gruppe arbeitet, dass es offen ist. Wir wollen ein Ort der Vernetzung sein, ein kulturpolitisches Haus.
Aber ursprünglich ging es schon darum, in Oldenburg Theater zu machen?
Unsere Arbeit ist immer auf das Theater bezogen, gerade weil es um Grundlagenforschung geht. Das war von Anfang an so. Natürlich bin ich durch meinen Werdegang geprägt.
Natürlich. Dann müssen Sie jetzt verraten, wie der verlief.
Im Grunde hat es damit angefangen: Als junger Mensch wollte ich irgendwann einen Schnitt machen. Ich verstand in Deutschland einige Dinge nicht, wollte sie aber verstehen – und dachte, das geht aus der Distanz besser. Also bin ich international unterwegs gewesen. Als Musiker findet man schnell Anschluss
Wie jetzt als – Musiker?
Als Percussionist. Ich hatte schon in Deutschland mit Alltagsgegenständen wie Autotüren und Ofenrohren experimentiert. Dort haben mich die traditionellen Instrumente und Arbeitsweisen interessiert, in Indien Katakali, in Neuseeland die Tänze der Maoris.
Das hat Sie zum Theater gebracht?
Ich bin dabei eher Schritt für Schritt ins Theater gerutscht – in den Ort, wo alle Künste zusammenfließen. Und als ich dann zurück nach Deutschland kam, war hier in Oldenburg die Kulturetage im Aufbau …
… als selbstorganisierter Kulturort …
… und das war für mich genau das richtige Feld, mit anderen Künstlern etwas aufzubauen. Irgendwann hat sich das dann getrennt, die Kulturetage wurde ein soziokulturelles Zentrum, und wir haben für uns die Theaterfabrik erstritten, ein wunderbares Experimentierhaus, das leider dann abgerissen wurde, schließlich kam das hier.
Klingt jetzt gar nicht, als hätte sich die Ausgangslage für junge KünstlerInnen verschlechtert: Die Aufführungsorte mussten Sie sich erkämpfen, die Spielweise zwischendurch entwickeln – was ist so anders?
Die Situation ist heute anders: Theater wird viel weniger als Ort der lebendigen Auseinandersetzung gesehen, sondern eher für Unterhaltung.
Es gibt schon immer wieder Skandale …
Ach ja, aber darum geht es doch nicht. Meine schönsten Vorstellungen als junger Künstler, das waren die, wo man sich im Saal danach fast geschlagen hat, weil sich das Publikum so uneinig war: Ist das nun total schlecht, oder total genial.
Okay, das erlebt man heute nicht mehr ohne Weiteres …
Und dann, was definitiv anders war: Natürlich ist man auch früher nicht reich geworden, mit freiem Theater. Aber es gab noch nicht diese Existenzangst, die jeder junge Künstler heute haben muss, die selbst mich ergreift: Ich weiß, dass ich in der Altersarmut lande. Aber das können wir der jungen Generation doch nicht als Perspektive zumuten.
Aber wo wäre das denn früher anders gewesen?
Ich konnte damals von meinen Produktionen leben: Klar, Oldenburg alleine wäre dafür schon zu klein, du kannst deine Stücke ja nicht endlos oft spielen. Aber die Tourneen, das ging damals ganz gut. Und das geht heute nicht mehr.
Inwiefern?
Ein Beispiel: Freie Theatergruppen in Niedersachsen müssen ihre Produktion in Niedersachsen mindestens zehn Mal zeigen, um Förderung zu bekommen. Wir werden deshalb oft von jungen Künstlern angefragt.
Das ist doch prima, das wollen Sie doch auch!
Ja, aber da gibt es einen gewaltigen Hemmschuh: Ein Auftritt kostet Geld, von der Werbung bis zur Realisierung, das wir als Spielstätte nicht haben, und da sind die notwendigen Gagen noch nicht einmal mit drin. Es stimmt, wir würden unser Haus gerne zur Verfügung stellen – aber wie? Wenn es in Niedersachsen, weder von der Kommune noch vom Land eine angemessene Spielstättenförderung gibt. Da wäre also die Politik gefordert.
Bloß, wie bekommt man die auf seine Seite?
Nicht als Einzelkämpfer: Wir haben in Niedersachsen den Spielstättenverbund gegründet, der das Manko beheben will. Und der Unmut wächst.
Wo denn?
Die niedersächsischen Stiftungen, die viel Geld in Produktionen investieren, die Universitäten, die jährlich KünstlerInnen als professionellen Nachwuchs entlassen, aber auch die Spielstätten anderer Bundesländer, die mit Niedersachsen zusammenarbeiten wollen, die alle sehen und formulieren die gleiche Notwendigkeit wie wir. Wir brauchen Standards für die freie Kunst.
Welche denn?
Also als erstes mal: keine Arbeit ohne Bezahlung.
Das klingt selbstverständlich?
Das ist es aber eben nicht.
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