: Auf die Zero Seven Right
FLUGSPRACHE Menschen in Cockpits zwitschern meist Unverständliches
NIKOLAI POINTNER, PILOT
VON ANNABELLE SEUBERT
Von den Flügen der Geschäftsleute, der Anzugträger, Smartphoneträger, Laptoptaschenträger, von denen der Kurzreisenden, drei Tage, Berlin, Big Ben, Berlin, von denen der Urlauber, zwei Wochen Strand, acht Wochen Backpacken, sind vielleicht die am schönsten, die einen Abschied bedeuten.
Durch Glasscheiben hat man noch Menschen gesehen, die einen hierher gebracht haben, ihre Gesichter, dann ihre Hände, wie sie hinter anderen Händen verschwinden, während man selbst auf Rolltreppen weggeschoben wird. Bildschirme leiten zu Terminals und Gates und Sitzen, in denen Sicherheitshinweise klemmen und Kataloge und Schwimmwesten.
Schließlich das Rauschen des Triebwerks und das automatisierte Lächeln der Stewardess, we wish you a pleasant flight. Dieses Gefühl, dass einem zu warm ist, die Unterarme aber frieren, wenn man den Pulli hochkrempelt. Hinten klappert Metall auf Metall, abgepacktes Essen, das gleich seinem Geruch folgt und durch zu schmale Gänge gerollt kommt, Zeitungsrascheln, Orangensaft, Tomatensaft, in der Mitte schreit ein Baby und man merkt, trotz Abschied und womöglich der Angst vor dem, was jetzt so kommt: Man funktioniert.
Kennen Sie das, Herr Pointner?
Er trägt Uniform, und wie immer bei Uniformen stellt sich die Frage, ob sie einen zu dem machen, was man ist – oder ob man auch ohne sie ist, was man ist. Nikolai Pointner jedenfalls ist Pilot und sieht mit seinem dunkelblauen Anzug und den Goldknöpfen am Hemdärmel, „Lufthansa“ daneben eingestickt, auch wie einer aus: Mitte fünfzig, graues Haar, helle Augen und Bügelfalte – Typ George Clooney.
Pointner – „Verkehrsflugzeugführer“ sein korrekter Titel – sitzt links im Cockpit, setzt seine Sonnenbrille, Ray-Ban, und seine Kopfhörer, Sennheiser, auf. Neben ihm sein Copilot; neben, vor und über ihm: ein DJ-Pult im Paul-Kalkbrenner-Format. Dreihundert Bedienelemente. Knöpfe, Schalter, Pfeile, Kreuze, Kompasse, FUEL, ELEC, AIR COND, FIRE, SPEED BRAKE, PARKING BRAKE, FLAPS, ANTI ICE, LIGHTING, AP1, AP2, COCKPIT DOOR UNLOCK NORM LOCK. Am Morgen kam er aus Stuttgart, als nächstes fliegt er die Route Berlin–Frankfurt–Frankfurt–Paris. Sein Airbus ist ein A320-200, Länge 37,6 Meter, Spannweite 34,1 Meter, Geschwindigkeit 840 Kilometer pro Stunde, maximales Startgewicht 73.500 Kilo, viel, viel Kerosin.
Pointner zieht die Schultern hoch. „Merken Sie gar nicht“, sagt er, „ob da jetzt Passagiere drin sind oder Fracht.“ Wie viele Passagiere sind denn drin? Wieder zieht er die Schultern hoch. „Hundertfuffzich?“ Die Zahl stimmt fast, das andere völlig: Im Cockpit sitzt es sich zwar auch mit wenig Fußraum gut, aber abgeschottet von den standardisierten Gesten und Ansagen, die im hinteren Teil des Flugzeugs Vertrauen schaffen sollen, bitte prägen Sie sich die Notausgänge ein. Es ist ein bisschen, wie es in einer Raumschiffkapsel sein muss, zumindest wie in der, die Peter Schilling in seinem Schützenfestschlager „Major Tom“ besungen hat – losgelöst.
„Schauen Sie mal, da auf dem Kasten, auf dem Oxygen mask steht.“ So geht Pointners Ansage. „Da drücken Sie im Notfall drauf und dann kommt da eine Maske raus. Aufsetzen, weiteratmen.“ Und dann? „Dann gehen wir hier zur Tür raus, unser Fluchtweg.“
Aus dem DJ-Pult kommt ein Fax. Pointner zieht einen Zettel aus einem Schlitz zwischen den Schaltern, sagt, „Passenger Information List, kommt per Satellit über Singapur.“ Über Singapur? „Über Singapur. Daran können Sie ablesen, welche Passagiere von Frankfurt weiterfliegen und wohin.“ Paris, Florenz, Philadelphia, San Francisco, London Heathrow, Innsbruck, Kairo. „Oft stehen auch Städte drauf, die kaum ein Mensch kennt.“ Er deutet auf Siem Reap. „Kambodscha!“
– Strom abziehen?
– Strom kann ab.
Man kann sich schnell abgewöhnen, die Geheimsprache im Cockpit decodieren zu wollen. Man muss einfach mal mitfliegen, eigentlich nur den Start miterleben, um zu wissen: Sie ist Vogelgesang schon insofern ähnlich, als sie nur der Luftsprache Mächtigen zur Verständigung dienen kann. Den Funk der Bodenstation hört man übrigens über den Knopf VHF1. Cockpit-Internes über INT.
– Cabin Crew ready.
– On engine.
Eine von hier unsichtbare Kraft zieht die Maschine rückwärts, LH 181/22 MAR TXLFRA 09:45, vorbei an Wald, Finnair, Air Berlin, Lufthansa, Edelweiss Air, Lufthansa, auf der Landebahn winkt ein Mann in Neongelb, Berlin-Tegel.
– Full up. Full down.
– Tower one to five Romeo.
– Runway Zero Eight Right.
Vorneweg rollt eine SAS, Scandinavian Airlines, hebt ab und verschwindet im Blau. Pointner lehnt den Kopf in seinem Sessel zurück, als starte er sein Auto, eine Hand am Gashebel, es rüttelt, wird schnell, sehr schnell, „gleich geht’s los, alle angeschnallt?“
– You have control.
– I have control.
– Take-off.
Ein Gefühl wie im ersten Wagen der Achterbahn, kurz vor der ersten Abfahrt. Das Blut steigt in den Kopf, du vergisst den Moment, in dem es losgeht, bereits in dem Moment, in dem es losgeht, das Zeitempfinden reicht für eine solche Geschwindigkeit nicht aus, die Nerven rutschen in den Magen, es ist steil, steiler als erwartet, go rotate, 3.000 Fuß, 6.000 Fuß, Berlin unter dir, ein verschneites Labyrinth. Du bist im Himmel.
„Marzahn.“ Pointner zeigt aus dem Fenster und schaut auf Spielzeugplattenbauten, die ehemals größte Großsiedlung der DDR. „Erkennt man sofort“, sagt er.
Und dann: „Zum Beispiel jetzt.“ Die Maschine senkt sich, liegt gerade in der Luft. Seatbelts Auto. „Wenn ich jetzt zu Hause wäre, wäre es draußen grau. Hier bin ich in ein paar Minuten durch der Wolkendecke und die Sonne scheint.“ Darum, sagt Nikolai Pointner, fliege er.
Die Nerven werden ruhiger und der Flottenchef wird gesprächiger, er hat den Sonnenschutz an zwei Fenstern runtergezogen, der Autopilot – AP1, AP2 – steuert, der Copilot antwortet dem Funk, und Petra, die Chefflugbegleiterin, hat Kaffee für den Becherhalter und das Frühstückstablett gebracht, Hero Strawberry Jam, Meggle-Butter, gerollte Servietten.
Pointner isst Obstsalat und erzählt vom Fliegen, seit 1985 sei er dabei, Psychologie und Informatik habe er mal angefangen, dann habe das mit der Lufthansa geklappt. Zwanzig Stunden am Tag dürfe man fliegen, im Ausnahmefall, Langstrecke, mit drei Mann. Wie sich die Zahl zusammensetzt? „Komplexe Regel, bisschen wie bei der Steuer.“ Früher sei er auch Langstrecken geflogen, „viel Nordamerika, Südamerika, Rio, São Paulo oder Asien, Bangkok, you name it.“ Heute sei er bloß noch vier, fünf Stunden am Stück unterwegs, nachts nicht so gern, das erfordere Kraft. „Wobei“, er verstaut das noch volle Tablett hinter seinem Sitz, „nachts eine große Stadt anzufliegen natürlich gigantisch ist.“
Und das mit der Familie sei kein Problem, auch wenn er keine habe – man sei ja nicht mehr zwei Wochen weg, so wie früher. Seine Frau habe weder Angst um ihn noch irgendwie Flugangst. „Im Gegensatz zu jedem dritten Passagier“, sagt Pointner. Es gebe nur selten einer zu, nicht mit dem Eindruck zurechtzukommen, den Fähigkeiten zweier Personen ausgeliefert zu sein, die man nicht sieht.
„Sehen Sie vor uns das Flugzeug?“
Nein.
„Das ist anderthalb Kilometer unter uns.“
Ach so.
Und der Unterschied zwischen einem Taxifahrer und einem Flugkapitän sei schlichtweg der: „Wenn Sie im Taxi einen Fehler haben, bleiben Sie stehen. Im Cockpit können wir nicht sagen, wir fahren mal eben rechts ran.“
– 2.800 Meter.
– Available.
– Die Autobrake low.
Herr Pointner, nehmen Sie Ihre Flugzeugsprache mit auf die Erde?
– 15.000 Fuß.
– Noch mal Direct Lorni eingeben.
– Ist der richtige Localizer.
„Wahrscheinlich schon“, sagt Pointner, den Arm jetzt über das Flight Management System gelegt wie über ein Armaturenbrett. „Ich requeste manchmal dieses oder jenes. Ich könnte einfach sagen: Ich möchte dieses oder jenes.“
– Auf die Zero Seven Right.
– Identified.
– Frag mal wegen Speed.
„Sehen Sie vor uns die Stadt?“
Nein.
„Das ist Fulda.“
– Heading. Heading. Charly auf die VOR zwei.
– Foxtrott Whiskey.
Foxtrott Whiskey?
Anscheinend naht Frankfurt, die A320-200 sinkt, kaum fünfzig Minuten in der Luft. Fließbandarbeit? Flaps, flaps two, die Räder werden ausgefahren, ein bekanntes Geräusch, lauter als sonst. Flaps full. Der Horizont ist klar und weiß, ein See aus Nichts, er geht in Felder über, grün, braun, dunkelbraun, schachbrettmusterartig, er weicht den Dörfern, Dächern, Schornsteinen und – eine Computerstimme gibt den Countdown in Metern, 400, 300, man will nicht wissen, wie es klänge, wenn es brennt – 200, 100, 50, landet in einem unwirklichen Konstrukt aus Kontrolltürmen, Schildern, Transit-Shuttles und Beleuchtungssystemen, das Flughafen heißt.
Fließbandarbeit sieht anders aus.
Nikolai Pointner will, dass man weiß, wie es klänge, wenn es brennt. Er drückt auf FIRE und löst ein Signal aus, UA-UA-UA-UA-UA-UA, das an Absturzszenen aus Hollywood erinnert, in denen die Zeiger der Höhenmesser rasant fallen und Menschen von einem Ende ans gegenüberliegende, vielleicht ist der Pilot ein Held und dreht seinen Airbus auf den Rücken.
Pointner sagt, er habe mehr Gefährliches auf der Fahrt zum Flughafen als im Cockpit erlebt.
Herr Pointner, sagen Sie mal in einem Satz, warum ein Flugzeug fliegt.
„Weil es schwerer ist als Luft.“ Er schafft es nicht ganz in einem Satz. „Weil man es mit technischen Tricks dazu gebracht hat, in Richtung eines Vogels zu gehen. Man dachte, der Vogel fliegt einfach so. Und hat dann verstanden, dass er mit seinen Flügeln einen Auftrieb erzeugt, der stärker ist als sein Eigengewicht. Dadurch kann er fliegen.“
Es geht noch eine Weile so, zwei Routinetouren, Pilot und Copilot werden nicht mitbekommen, wen sie alles durch die Luft transportiert haben in diesem Gerät, das sechzig Millionen Euro kostet – ungefähr, echter Preis Betriebsgeheimnis –, ob Geschäftsleute darunter waren, Kurzurlauber oder Abschiedsreisende. Sie werden – am Nachmittag dann – ein bisschen aufgeregt sein im Cockpit, als sie den Eiffelturm im Nebel entdecken, „nein, auf der anderen Seite!“, rufen, „was da glitzert, wie ’ne Nadel!
Aber jetzt geht es erst zum Zwischenstopp vor das Lufthansa Terminal in FRA, auf dem die Gesellschaft mit Jetset-Sprüchen wirbt, Boarding. Dining. Beijing. Frankfurt. Delhi. Daily. Die gelben Linien entlang, die November Fünf und die Lima Sieben, bis eine Funkdurchsage den bislang so normalen Ablauf unterbricht: Man solle vorsichtig sein auf der November Sieben. Es gebe ein Hindernis auf der Fahrbahn. Offenbar handle es sich um Vögel.
– Vögel?
– Muss dort drüben sein, noch vor dem Bobby.
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