: Heinrich, mir graut vor dir
AVANTGARDE-OPER Die Zuhörenden müssen entscheiden, was gespielt wird. Das Radialsystem hat es gewagt, die Oper „Vôtre Faust“ so aufzuführen, wie die beiden Autoren Henri Pousseur und Michel Butor sie geplant hatten
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Michel Butor selbst war gekommen. Ein sehr alter Mann, gebrechlich, aber mit leuchtenden Augen und fröhlichem Lächeln bedankte er sich für den Applaus im Radialsystem von Berlin. Nichts war mehr alt hier, sondern so radikal neu, wie er es immer haben wollte, er, der Professor für Literatur und Mitbegründer des Nouveau Roman in Frankreich. Gerhard Müller-Goldboom, nun auch schon seit 25 Jahren in Berlin engagiert für alles Neue in der Musik, hat mit seinem Orchester Work in Progress einen Text von Butor zum Leben erweckt, den er einst unter dem Titel „Vôtre Faust“ für Henri Pousseur, den belgischen Komponisten, geschrieben hatte.
Über 40 Jahre sind seither vergangen. Pousseur, der zu den führenden Köpfen der legendären Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik gehört hat, ist 2009 verstorben und hat sein Stück nie angemessen auf der Bühne erlebt. Im Radialsystem war zu ahnen, warum. „Vôtre Faust“ versucht, die Methode der sogenannten Aleatorik auf die Großform der Oper anzuwenden, wenn auch ironisch: Nicht die Musiker, sondern die Zuhörenden müssen im Lauf der Aufführung entscheiden, welche Teile der Partitur gespielt werden.
Kein Theater hat sich bisher getraut, so weit zu gehen, denn was Pousseur und Butor verlangen, ist weit mehr als die heute durchaus beliebte Interaktion mit dem Publikum. Seine Entscheidungen definieren das Stück selbst: Es ist unmöglich, in einer Aufführung alle Szenen zu spielen, die es enthält.
Geprobt werden müssen sie trotzdem, und natürlich hat das Verfahren nichts mit Demokratie zu tun. Pousseur und Butor inszenieren ein virtuoses, wundervoll geistreiches Spiel mit Konventionen, das nicht zuletzt auch die Konventionen der Avantgarde selbst mit einbezieht.
Heinrich, mir graut vor dir: Der Theaterdirektor tritt auf und stellt Henri vor, das Genie der Musik. Lispelnd und verschüchtert erklärt der Schauspieler Franz Rogowski auf der Schiefertafel, was Komponieren nach Darmstädter Art ist. Die Parameter der Höhe, Dauer, Artikulation und Lautstärke von Tönen werden nummeriert und nach Belieben neu geordnet. Irgendetwas Klingendes entsteht so immer, aber nicht immer Musik. Henri, der Schauspieler, macht es vor mit einem Thema von Anton Webern.
Nett, aber lange nicht so schön wie das, was Henri Pousseur selbst danach mit der gesamten abendländischen Tradition von Monteverdi bis heute anstellt. Er zerhackt sie in eine insgesamt etwa drei Stunden lange Sequenz von kurzen, lakonischen Episoden für vier Singstimmen und zwölf Instrumente.
Selten sind die Zitate identifizierbar, aber irgendetwas Bekanntes klingt immer mit. Wie in einem Kaleidoskop zersplittert, kehrt es nun geometrisch geordnet und funkelnd zurück. Es ist das reine Vergnügen, einfach nur zuzuhören, denn Pousseur will keine Welten umstürzen. Es macht ihm selbst Spaß, und manchmal scheint er über sich zu lachen, weil es so einfach ist, die alten Töne durcheinanderzuwirbeln.
Der Theaterdirektor jedenfalls möchte unbedingt eine Oper von diesem Henri haben. Er gibt ihm alles, was er möchte: Geld, Zeit und Frauen. Nur eine wahrhaft mephistophelische Bedingung muss er erfüllen: Ein Faust muss es sein.
Wunderbar übersetzt Butor damit Pousseurs Spiel ins Theater. Henri wird auf den Jahrmarkt geschickt, wo der Faust zu Hause war, bevor Goethe kam. Die Buden, die dort stehen, hat die Regisseurin Aliénor Dauchez von Künstlern gestalten lassen. Entstanden sind Miniaturinstallationen, die auf Paletten auf der Spielfläche verschoben werden können, ebenso beweglich und ironisch wie Pousseurs musikalische Szenen.
Stimmen und elektronische Klänge aus den Lautsprechern überhöhen den magischen Raum des Theaterteufels, in dem Henri alles bekommt, was ein Faust so braucht. Es gibt Geisterbeschwörungen mit lebenden Hühnern und einer Ziege. Und Gretchen gibt es gleich doppelt, in Gestalt der süße Maggy und der strengen Grete.
Über ihre Karriere muss das Publikum in der Pause abstimmen. Am Samstag hat Maggy gewonnen, und die anderen aleatorischen Eingriffe fielen alle so aus, dass es nicht gut endet mit Henri. Keine Note hat er geschrieben, und der Teufel gibt den Job dem Richard. So heißt hier Goethes Famulus Wagner. Aber auch der hat die Faust-Oper nicht geschrieben, die nicht geschrieben werden kann, weil sie gerade verklungen ist in der einzig möglichen Form der mehrfachen Reflexion der Geschichte in sich selbst. Radikaler geht es nicht, und das Radialsystem verkündet die frohe Botschaft, dass die Avantgarde wieder auferstanden ist.
Vielleicht war sie gar nie tot, sondern nur vergessen, und beruhigt darf man zur Kenntnis nehmen, dass der Intendant des Basler Theaters an der Inszenierung mitgewirkt hat. Er wird sie im November in seinem Haus vorstellen, und man darf hoffen, dass sich dieses große Stück Musiktheater endlich durchsetzt. Und dann auch in Berlin nicht nur für drei Tage zu sehen ist.
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