Israelische Schriftstellerin Lizzie Doron: Dialog unter Beschuss
„Who the fuck is Kafka?“: Lizzie Doron hat einen lebhaften Roman über das verminte Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern geschrieben.
Israel, das ist doch „eine psychiatrische Anstalt für posttraumatisierte Juden“, ätzt Lizzie Doron auf einer Nahost-Friedenskonferenz in Rom. Lizzie Doron ist selbst Israelin. In ihrem fabelhaften neuen Roman, der auf wahren Begebenheiten beruht, spielt die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin selbst eine der beiden Hauptrollen. Die Podiumsdiskussion ist nach ihrem Kommentar schnell beendet – Psychologie bringt das Schwarz-Weiß-Denken der Teilnehmer durcheinander.
Nur einer reagiert auf die Autorin aus Tel Aviv und gibt sich sogar als „Mitpatient“ in der „Anstalt“ zu erkennen: Nadim, ein palästinensischer Israeli. Er fotografiert für Menschenrechtsorganisationen und hält seine Familie mit Italienischunterricht über Wasser.
Die beiden kommen in diesem dicht an der Realität erzählten, lebhaften und durchaus sehr politischen Roman, in dem man viel über die Komplexität des israelisch-palästinensischen Konflikts erfahren kann, intensiv ins Gespräch. Lizzie kämpft mit ihren Vorurteilen: „Man merkte ihm an, dass er Araber war, gestreiftes Hemd, gestreifte Socken und natürlich der Akzent […] Hör auf mit diesen rassistischen Gedanken“, weist sie sich immer wieder zurecht. Vor allem macht ihr die Angst zu schaffen – die Tochter einer Holocaust-Überlebenden fühlt sich schnell bedroht; wie sie befürchten viele Israelis, die Araber wollten zu Ende führen, was die Nazis nicht geschafft haben.
Nachts verbarrikadiert sie panisch ihre Hotelzimmertür, könnte der neue Bekannte doch ein Attentäter sein. „Ein Glück, dass Dani [ihr Mann] mich nicht so sieht, schoss es mir durch den Kopf, er hätte das für eine sehr seltsame Methode gehalten, Frieden zu schaffen.“
Ein Codewort zum Töten
Die Vorurteile sitzen tief. Als Nadim, der von seinem eigenen Film träumt, „Cinecittà“ erwähnt, klingt das für seine unter Hochspannung stehende Koreferentin zunächst so bedrohlich, als wär’s ein Codewort zum Töten. Dann erfährt sie erleichtert, dass er die römische Filmstadt meint. Erschrocken von ihrer neurotisch-paranoiden Reaktion, tröstet sie sich damit, dass Nadim gewiss keine Ahnung habe, wer Mengele war. Immer wieder spielt Doron auf die historischen, kulturellen, religiösen und traditionellen Unterschiede zwischen Palästinensern und Israelis an. Ihr Setting ist der von Gewalt, Angst und Rassismus geprägte Alltag, der das Zusammenleben immer unmöglicher werden lässt.
Zurück in Israel, wollen beide Protagonisten ihren Austausch kreativ nutzen. Nach einem ersten gescheiterten Versuch, gemeinsam ein Buch zu schreiben, beschließt sie, die Geschichte allein aus ihrer Perspektive zu erzählen, er hingegen will einen Film darüber drehen. Das lässt sie, ungeachtet der feindseligen Atmosphäre, stetig näher rücken. „Cinecittà“ wird jetzt zum beflügelnden Motto, zum Symbol für Hoffnung.
Der Weg zur Freundschaft ist jedoch voller praktischer und psychologischer Fallgruben. Lizzie und Nadim sind beherrscht von einstudierten, tief sitzenden Feindbildern. Es komme ihr so vor, sagt sie ihrem Mann, „als wären wir die meiste Zeit nicht wir selbst, Nadim und ich. Ich wäre alle Juden und er alle Araber, ich wäre die Armee und er die Hamas, ich der Besatzer und er der Besetzte, und nur in manchen Momenten wären wir, trotz allem, Freunde.“ Ihre Freundin Dvora – in Roman und Realität Friedensaktivistin – hilft ihr über viele Klippen hinweg und erinnert sie stets im richtigen Moment daran, „wer hier der Besatzer ist“.
Fundamentalisten, Imperialisten, Terroristen!
Nadims Lebensumstände verhindern wiederholt ihre Treffen und die Dreharbeiten, es kommt zu absurden Episoden. Ständig funkt ihnen die Umwelt dazwischen, in der Unbelehrbare und Extremisten den Ton angeben. Von Entlastungswünschen getriebene Europäer heizen die Situation weiter an. Ein italienischer Radiomoderator schlägt während eines „hochmütigen Interviews, das er nur mit sich selbst geführt hat“, mit Klischees nur so um sich: Fundamentalisten, Imperialisten, Terroristen! Eine deutsche Filmemacherin belehrt Lizzie und Nadim bei Wein, an dem sie sich allein betrinkt, wie sie sich bitte schön zu fühlen hätten. Angesichts von „Cannes, Auschwitz und Merlot“ verliert Nadim die Nerven.
Beim Lunch mit Michelle, einer Vertreterin der EU, die ihr Verständigungsprojekt fördern will, kommt es zum Eklat. Nadim dominiert das Gespräch mit Geschichten über sein Leid als Palästinenser. Kafkaeske Verhältnisse, findet Michelle, und stößt mit entsetzt aufgerissenen Augen mantrahaft „Kafka“ aus. Dabei straft sie Lizzie, stellvertretend für alle israelischen Besatzer, mit bösen Blicken.
Lizzie fühlt sich wie Staffage und Angeklagte zugleich, ihre Perspektive geht vollkommen unter. „Ich schaute zu Michelle hin, die mich wieder ignorierte. Ich wüsste gern, was ihr Vater im Krieg getan hat, überlegte ich. Bestimmt hat er jüdische Kinder gerettet.“ Die Bemerkung ist selbstverständlich zynisch gemeint. Ihre Zorneswelle bricht sich schließlich an Nadims freundschaftlicher Geste, ihre Hand zu ergreifen. „Who the fuck is Kafka?“, fragt er sie beim Abschied. Das ist nun auch der Titel des Romans.
Die Traumata und transgenerationalen Folgen der Judenvernichtung sind Lizzie Dorons großes Thema, persönlich wie literarisch. Nach Büchern wie „Ruhige Zeiten“ oder „Das Schweigen meiner Mutter“, in denen sie das Lebensgefühl der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen beschreibt, handelt ihr sechstes Buch jetzt, anders als von vielen ihrer Fans erwartet, von den aktuellen politischen Verhältnissen in ihrer Region. Mit Einfühlungsvermögen, Selbstkritik und Witz erzählt sie über ihren eigenen Lernprozess auf dieser Reise ins Unbekannte. Sie stellt fest, dass sie über die stark benachteiligte Lage palästinensischer Bürger Israels, ja über ihre Nachbarn überhaupt, herzlich wenig weiß.
Landesverräter
Nadim ist ein erfundener Name, der die Identität ihres „Projektpartners“ schützen soll. Palästinenser, die mit Israelis Umgang pflegen, sind innerhalb der eigenen Gesellschaft derzeit nicht beliebt. Es heißt, sie normalisierten die Besatzung, anstatt sie durch den Boykott jeglicher Kontakte auf der politischen Tagesordnung zu halten. Aber auch alle anderen Figuren tragen nicht ihre richtigen Namen. Für die Mehrheit der Israelis wiederum sind Kontakte zu Palästinensern abwegig, wer heute mit ihnen umgeht, wird von vielen als Landesverräter angesehen.
Auch deshalb ist dieses neue Buch bislang nur auf Deutsch erschienen. „Wir Israelis sind so desillusioniert und mit uns selbst beschäftigt, dass die Verleger glauben, ein Buch über unseren Konflikt interessiert keinen mehr“, sagt die Autorin im Gespräch. „Meine vorherigen Bücher klingen auf Deutsch richtig, weil diese Sprache zum Stoff passt. Dieses Buch jedoch hat den Klang der Region – ich hoffe, dass es bald auch auf Hebräisch erscheinen wird.“
Die Vergangenheit fehlt auch im aktuellen Buch nicht. Doron bezieht sich stark auf die Bücher des israelischen Psychologen Dan Bar-On, der sich Zeit seines Lebens als Praktiker mit den Chancen und Grenzen eines Dialogs in unlösbaren Konflikten beschäftigte. So arbeitet sie auch das „Spannungsdreieck“ (Bar-On) von Israelis, Palästinensern und Deutschen heraus, das sich wie ein Netz durch ihren Text webt.
Sie zeigt, dass Lizzie und Nadim durch die Folgen des Holocaust und der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser, beide traumatisiert sind. Ständig wetteifern sie, wer mehr leidet, wer Opfer und wer Täter ist. Auch terminologisch geraten sie aneinander. Was für sie Terroristen sind, sind für ihn Freiheitskämpfer. Eine Geschichte, zwei radikal verschiedene Perspektiven und Wertungen: Das ist die Essenz des vertrackten Nahostkonflikts, die Doron vortrefflich auf den Punkt bringt. Im Gespräch sagt die Autorin noch: „Jeder von uns wollte der Gute sein, doch die Lösung heißt, uns nicht gegenseitig zu beschuldigen, sondern stattdessen zu akzeptieren, dass jeder ein Recht auf sein Narrativ hat.“
Rücksichtslose Außenwelt
Auch hier steht Doron in Bar-Ons Tradition: Der Pionier des „storytelling in conflicts“ war der Ansicht, dass wahrer Friede nur entstehen könne, wenn man die Verschiedenheiten zwischen den Kontrahenten anerkenne und nicht nur nach den Gemeinsamkeiten trachte. Einen Austausch, wie Doron ihn so eindringlich beschreibt, nannte er einen „Dialog unter Beschuss“. Das bedeutet, dass jeder neue Gewaltausbruch, jedes Scheitern auf politischer Ebene die persönlichen und professionellen Kontakte zwischen Palästinensern und Israelis sofort in Gefahr bringt und allzu oft scheitern lässt. Auf Gesprächswillige nimmt die Außenwelt keine Rücksicht.
Viele ausländische Beobachter wissen über den Konflikt im Nahen Osten zudem meist wenig, trotzdem argumentieren sie lautstark polarisierend, statt zu vermitteln. Sie befeuern die destruktive Dynamik und werden so selbst zu Akteuren des Konflikts, getrieben von eigenen nicht verarbeiteten Problemen, von diffusen Schuld- und Schamgefühlen, die häufig ihren Ursprung in den NS-Verbrechen haben.
Lizzie Doron: „Who the fuck is Kafka?“ Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. dtv, München 2015, 256 Seiten, 14,90 Euro
Die Macht der Vergangenheit auf die Gegenwart wird meist unterschätzt. Gerade deshalb ist ein Buch wie Dorons so wichtig. Sie bietet ihren Lesern die Möglichkeit, sich mit beiden Protagonisten zu identifizieren. Besonders symbolträchtig ist deshalb die Szene, in der Lizzie vorm Zubettgehen die Perlenkette ihrer Mutter in die mit Koranversen verzierte Schatulle legt, die Nadim ihr geschenkt hat. In diesem Moment sind all die Splitter und Fragmente integriert, die vermeintlich nicht zusammengehören. Im Roman nennt das Lizzies Mann „Frieden“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“