Sonnenfinsternis in Deutschland: Stresstest für Stromunternehmen
Die Sonnenfinsternis ist kritisch für die Stabilität des Stromnetzes. Tennet-Chef Urban Keussen bereitet sich seit Monaten darauf vor.
taz: Herr Keussen, mal rein vom Wetter her betrachtet: Wie herausfordernd ist die Situation nun?
Urban Keussen: Wir rechnen in der Spitze mit einer Photovoltaikleistung von etwa 21 Gigawatt. Das ist zwar nicht das Maximum dessen, was in Deutschland möglich ist, aber es ist eine ganze Menge. Wir sind sehr gespannt.
Sie warten also seit Tagen auf die Wetterprognose für Freitagvormittag?
Klar. Wir beziehen zwar auch im Normalfall ständig aktualisierte Vorhersagen vom Deutschen Wetterdienst und anderen Anbietern, aber am Freitag haben wir für die betreffenden Stunden noch zusätzliche Prognosen eingekauft.
Warum ist die Sonnenfinsternis nun kritischer für die Stabilität des Netzes als der alltägliche Sonnenuntergang?
Weil die Einstrahlung viel schneller zurückgeht und ansteigt als an normalen Tagen. Wir rechnen am Freitag bei der Solarstromerzeugung mit einem Gradienten von bis zu 4.200 Megawatt innerhalb von 15 Minuten. Das ist sogar dreimal so hoch wie das, was wir sonst als Maximum kennen – etwa beim Sonnenuntergang oder wenn beispielsweise der Wind plötzlich nachlässt.
Erstmals seit dem Boom der Photovoltaik findet am Freitag zwischen 9.30 und 12 Uhr in Deutschland eine Sonnenfinsternis statt. Zum Höhepunkt liegt die Verdunkelung zwischen 68 Prozent im Südosten und 83 Prozent auf Sylt.
Sonnenfinsternisbrillen sind vielerorts ausverkauft. Wer das Naturschauspiel ohne sie verfolgt, riskiert nach Angaben des Bundesamts für Strahlenschutz seine Sehkraft. Rußgeschwärzte Gläser, schwarze Filmstreifen, CDs oder Ähnliches seien für die Beobachtung der Sonne nicht nur ungeeignet, sondern gefährlich.
Aber Sie haben ja immerhin den Vorteil, dass die Sonnenfinsternis exakt im Voraus zu berechnen ist.
Gleichwohl ist das Ereignis eine große Herausforderung, auf die wir uns seit Monaten vorbereiten – zusammen mit den europäischen Nachbarn, mit der Bundesnetzagentur und mit Kraftwerksbetreibern. Wir haben das Personal in der Schaltleitung verstärkt, und es wird ständige Telefonkonferenzen geben. Außerdem haben wir doppelt so viel Regelleistung unter Vertrag genommen wie üblich. Insgesamt sind das 8.000 Megawatt.
Das mit der Regelenergie müssen Sie erklären.
Wir schließen auch an normalen Tagen Verträge mit Kraftwerksbetreibern, die dem Netz auf Anforderung kurzfristig entweder Strom liefern oder die Erzeugung drosseln. Das geschieht per Auktion: Wer dem Netz die nötige Flexibilität am billigsten zur Verfügung stellen kann, erhält den Zuschlag. Das können auch Fabriken sein, die auf Anforderung ihre Stromnachfrage drosseln.
Der Physiker leitet die TenneT TSO GmbH, die das Hochspannungsnetz von der Nordsee bis nach Bayern betreibt.
Es gibt in Deutschland also genügend flexible Kraftwerke, um auch an diesem Freitag die schnellen Leistungsänderungen im Netz zu bewältigen?
Die Kraftwerke sind vorhanden, das Ganze ist kein Problem der Technik. Es ist vielmehr eine organisatorische Herausforderung, weil das Stromnetz aufgrund der vielen Akteure sehr komplex ist.
Und können Sie aus der Sonnenfinsternis am Ende auch was lernen?
Die Sonnenfinsternis ist für uns in der Tat ein echter Stresstest. Denn durch den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien werden wir solche starken Schwankungen der Erzeugung in Zukunft auch an normalen Tagen erleben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“