: Die unverhoffte Relevanz des Fischteichs
KLEIN-KLEIN Der Einbruch im Laden gegenüber, die Planungen fürs Stadtteilfest – auch in einer Metropole geschehen Dinge gleich nebenan. Und es gibt Zeitungen, die darüber berichten. Für Anzeigenkunden ist die „hyperlokale“ Presse sogar besonders interessant
VON ANNA KLÖPPER
Dirk Wanner runzelt die Stirn: „Da können wir die Leute ja gleich fragen, ob sie Blasensteine haben. Interessiert auch keinen.“ Prenzlauer Berg, Schönhauser Ecke Kopenhagener: ein Klapptisch mit einem Stoß Zeitungen darauf. Davor steht die kleine Redaktion der Prenzlberger Ansichten, verteilt die aktuelle Nummer an Passanten und diskutiert nebenbei, was man bei der Straßenumfrage für die kommende Ausgabe in Erfahrung bringen will. Die Frage, auf die man sich am Ende einigt, lautet: „Wie sollte man mit Macht umgehen?“
Einmal im Monat liegen die Ansichten in den Spätis und Supermärkten zwischen Bornholmer Straße und Teutoburger Platz aus. Darin erfährt man alles über das Stadtteilfest auf der Kastanienallee oder die umstrittene Bebauung des Mauerparks. Der Polizeiticker vermeldet die Festnahme einer Spielzeugdiebin, dazu das Porträt einer 100-Jährigen im Naugarder Kiez. Nebensächlichkeiten, Kleinteiliges, „Hyperlokales“, wie es im Mediensprech inzwischen heißt – aber mit einer treuen Leserschaft: Die Ansichten haben eine Auflage von 13.000 Stück. Viel bleibe davon bis Monatsende nicht liegen, sagt Wanner.
Dabei ist die Kiezzeitung, die schon seit 1992 aus und für Prenzlauer Berg berichtet, keineswegs die einzige, bei der das Klein-Klein funktioniert. Im vergangenen Februar erschien das Neuköllner Online-Magazin neukoellner.net in der zweiten, grafisch wie journalistisch ambitionierten Printausgabe. Auflage: 10.000. Der Bezirk Mitte hat Mitteschön, eine Art Kiez-Neon, die sich thematisch irgendwo zwischen Notizen der lokalen Boheme und Kindergeburtstag positioniert. Auflage: 20.000. Und im Web gibt es etwa die Prenzlauer Berg Nachrichten, das Standardbeispiel für eine erfolgreiche lokale Netzzeitung. Die Seite, die 2010 an den Start ging, zählte im Januar rund 50.000 Klicks.
Von Müggelheim bis Charlottenburg-Nord
Aber auch die Großen berichten klein: Springers Berliner Woche unterhält 33 Lokalredaktionen, von Müggelheim bis Charlottenburg-Nord. Das kostenlose Wochenblatt erscheint in einer Auflage von über 1,5 Millionen, rund 1,4 Millionen Leser erreiche man laut einer aktuellen Analyse, sagt Chefredakteur Helmut Herold.
Das Hyperlokal-Modell, es rechnet sich offenbar: „Die Berliner Woche arbeitet wirtschaftlich“, so Herold. Kein Wunder: Der redaktionelle Teil (das neue Krankenzimmer der Bahnhofsmission, die Bauarbeiten am U-Bahn-Tunnel) macht in der Woche etwa 5 von rund 20 Seiten aus, der Rest sind Anzeigen. Die große Reichweite und die kleinteilige Lokalisierung seien die hauptsächlichen Verkaufsargumente der Anzeigenabteilung, sagt Herold. Die Fahrschule, der Frisör, viele Kleinunternehmen inserieren für die Kunden im Kiez. Und weil die Woche gratis in jedem Briefkasten landet, können sich Letztere kaum dagegen wehren.
Auch bei den Prenzlberger Ansichten finanzieren allein die Anzeigeneinnahmen den Druck. Und nicht nur das: Sie brächten sogar genug ein, um den Autoren ein „kleines Texthonorar“ sowie ihm selbst und Koherausgeber Michael Steinbach den Lebensunterhalt zu finanzieren, erklärt Dirk Wanner. Zwar habe man keine große Reichweite wie die Berliner Woche, gibt der 45-Jährige zu, „aber wir können gegenüber Anzeigenkunden argumentieren, dass Leser sich bewusst für unsere Zeitung entscheiden – und sie dann sehr wahrscheinlich auch lesen.“
Das sieht auch Christiane Flechtner so, Chefredakteurin der Reinickendorfer Wochenzeitung Der Nord-Berliner: „Unsere Anzeigenkunden wissen, dass sie nicht gleich im Papierkorb landen.“ Der Nord-Berliner finanziert sich, anders als die Woche und die Ansichten, auch über gut 3.000 Abos und den Erlös im Einzelverkauf. 50 Cent kostet ein Exemplar, die Auflage liegt bei 32.000. Das funktioniere, sagt Flechtner – wieder. Der Preis dafür: 2005 kündigte der Nord-Berliner Zeitung- und Zeitschriften Verlag GmbH, in dem der Nord-Berliner seit 1949 erscheint, allen angestellten Redakteuren. Mittlerweile arbeitet die komplette Redaktion – mit drei KollegInnen sitzt Flechtner im Redaktionsbüro in Hermsdorf – auf Honorarbasis, Fotos machen sie selbst, das Layout auch. Die Seitenzahl wurde von 24 auf 16 reduziert.
Die Größenunterschiede beim journalistischen Umgang mit dem Hyperlokalen sind also riesig – vom professionellen Verlagsprodukt bis zum Hobbyblättchen. Und doch gibt es einen gemeinsamen Nenner: Die große Stadt wird mit sehr kleinem Maßstab vermessen. Während größere Lokal- und Regionalzeitungen das Weltgeschehen auf eine Region oder Stadt herunterbrechen, graben Kiezberichterstatter noch eine Ebene tiefer. Im Extremfall machen sie eine einzelne Straße zum Gegenstand der Berichterstattung – wie die Schüler der Axel-Springer-Akademie mit ihrem „O-Blog“ über die Kreuzberger Oranienstraße. Und obwohl man durchs Internet in die ganze Welt hinausblicken kann, „funktioniert“ das Hyperlokale. Denn je unmittelbarer uns eine Nachricht betrifft, desto relevanter erscheint sie uns. Eine Spielzeugdiebin ist uns egal – es sei denn, sie hat im Laden nebenan geklaut, dessen Inhaberin wir vielleicht kennen.
Nicht so nah am gefühlten Gartenzaun
Die großen Berliner Regionalzeitungen – Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Berliner Morgenpost – stehen meist nicht so nah am gefühlten Gartenzaun der LeserInnen. Eine Öffentlichkeit zu schaffen für Themen, die sonst in einer Metropole unter der Wahrnehmungsschwelle bleiben, das mache die Bedeutung von kleinteiligem Lokaljournalismus aus, findet Christiane Flechtner. Hinschauen, noch mal nachfragen, „vielleicht auch mal die Bezirkspolitiker anstupsen“. Die 40-jährige Chefredakteurin erzählt von einem Fischteich im Ortsteil Heiligensee, der zu versanden drohte, die Fische starben. Der Nord-Berliner berichtete, bald darauf wurde der Teich ausgebaggert. Oder diese eine Straßenlaterne, von der Helmut Herold erzählt: Sie brannte Tag und Nacht, und keiner kümmerte sich drum – bis die Berliner Woche einen Reporter vorbeischickte.
Das soll relevant sein? Ja, sagt Flechtner: „Die Leute wollen ernst genommen werden. Auch wenn es Probleme sind, die vielleicht nur eine kleine Gruppe betreffen, werden sie von dieser als existenziell wahrgenommen.“
Und manchmal, so Christiane Flechtner, sei da ja auch mehr als nur ein Fischteich. Sie erzählt von einem Reinickendorfer Parkplatzbetreiber, der überzogene Gebühren kassierte: „Bei solchen Themen rufen dann die großen Zeitungen an und fragen, ob sie die Geschichte auf ganz Berlin gemünzt nachziehen können.“
Um Nachschub an frischen Themen müssen sich die Hyperlokalen jedenfalls keine Sorgen machen: Viele Leser, erzählt Flechtner, marschierten mit ihren Problemen einfach direkt bis vor ihren Schreibtisch: „Die Hemmschwelle, sich einzumischen, ist nicht so hoch wie gegenüber den großen Zeitungen.“
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