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taz-serie fröhliche weihnachten (Teil 4): wie eine evangelische Gemeinde in Kreuzberg feiertKrippenspiele im multikulturellen Bezirk

„Letztes Jahr kamen Jugendliche, die sonst nie in der Kirche waren. Sie haben ihre eigene CD mitgebracht. Es war Pop-Rock – aber Weihnachtslieder“

Berlinerinnen und Berliner verschiedener Religionen, Lebensstile und Generationen entwickeln neue und eigene Formen, Weihnachten zu feiern. Die taz stellt einige davon vor.

Fünf Damen in Rentenalter sitzen um ein paar zusammengerückte Tische mit Plastikoberfläche. Die wöchentliche Bastelstunde im Gemeindehaus der St.-Thomas-Kirche am Mariannenplatz steht ganz im Zeichen des nahenden Weihnachtsfestes. Das Zimmer ist dekoriert mit nadelnden Tannenzweigen und Sternen aus Glanzfolie, die Kinder vom Hort nebenan fabriziert haben. Auf einem mit Servietten ausgelegten Teller bröseln Stollenscheiben. Eine der Damen strickt Zopfmuster aus knallroter Wolle und erinnert sich an längst vergangene Weihnachten im heimischen Wohnzimmer. „Nach dem Fest haben wir das Lametta gebügelt und dann fürs nächste Jahr aufgehoben“, sagt eine der Frauen zu ihrer Nachbarin. „Wir haben es auch aufgehoben, aber nur glatt gestrichen. Bügeln! Hattest du sonst nichts zu tun?“, entgegnet diese über ihre Häkelarbeit. Beide lachen.

Traditionelle Weihnachtszeit in einer evangelischen Kirche, so scheint es. Doch die Kirche mit der 56 Meter hohen Kuppel gehört zu keiner typischen Gemeinde. In diesem Wohngebiet im Herzen Kreuzbergs sind laut dem Pfarrer nur 12 Prozent der Menschen evangelisch. Rund um die Kirche leben Menschen fast aller Nationalitäten und vieler Religionen, 60 Prozent sind Muslime. „Vor so zehn Jahren war es nicht unüblich, dass muslimische Kinder beim Krippenspiel mitmachen. Da war auch mal ein türkisches Mädchen die Maria“, sagt Pfarrer Christian Müller. Die Stimmung habe sich gewandelt, besonders seit dem 11. September 2001. Nichtchristliche Eltern wollten seitdem oft nicht mehr, dass ihre Kinder beim Krippenspiel mitmachen.

Insgesamt sei die Kirche aber gut in die Nachbarschaft eingebettet, betont Pfarrer Müller. Auch wenn das Angebot der Kirche über die Weihnachtsfeiertage traditionell christlich ist – mit Krippenspiel, Christmette und Abendmahlsgottesdienst –, so sei die Kirche während des Jahres offen für interreligiöse Treffen. Anfang Juli etwa soll die Straßenfußball-Weltmeisterschaft mit Teilnehmern aus voraussichtlich 25 Ländern mit einer „multireligiösen Eröffnungsfeier“ in der Kirche starten.

Die aktuelle Weihnachtsdekoration der Kirche spricht der Pfarrer mit Rosemarie Zimmermann ab. Die 61-Jährige leitet seit 25 Jahren den Handarbeitstreff und hat Weihnachtsfeiern in bewegten Zeiten miterlebt. Etwa Anfang der 80er-Jahre, als 17 Häuser in angrenzenden Straßen besetzt waren. Als die Polizei ein Haus am Heinrichplatz räumte, erlaubte der Pfarrer den vertriebenen Besetzern, ihre Zelte um die Kirche herum aufzuschlagen. „Zu Weihnachten kamen die dann mit Hunden und Bierflaschen. Die hatten so Ketten an der Kleidung, und Nieten. Sie saßen auf der Empore, direkt neben der Orgel.“

Das passierte ausgerechnet in jenem Jahr, als Bischof Kruse von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg als Gast geladen war. „Das war so’n Feiner, der war gar nicht erbaut davon.“ Einen Eklat habe es aber nicht gegeben: „Er hat das dann leise weinend in Kauf genommen.“

Abwechslung in die Weihnachtszeit brachten auch die acht Pfarrer, die Zimmermann bisher miterlebt hat. Lebhaft erinnert sie sich den aus Kalifornien, der in einer Predigt Josef als Verlobten von Maria bezeichnete. „Wir hatten eine Annonce aufgegeben, dass wir einen Pfarrer suchen. Er war der Einzige, der sich gemeldet hat“, sagt Zimmermann.

Der schlechte Ruf der Schulen im Einzugsgebiet trage dazu bei, dass viele Pfarrer die Gemeinde verlassen, sobald ihre Kinder schulpflichtig sind, wirft eine der Damen des Handarbeitstreffs erklärend ein. Durch den steten Bedarf an neuen Pfarrern sei der „Cowboy“ von der anderen Seite des Atlantiks zur Gemeinde gestoßen. „Der kam dann mit Jeans an und hat auch mal ‚Scheiße‘ in der Predigt gesagt. Da mussten sich die Leute erst dran gewöhnen.“

Pfarrer Müller hat vor, auf absehbare Zeit seiner Gemeinde treu zu bleiben. Über die vergangenen Jahre habe er verstärkten Zulauf für die Kirche beobachtet, sagt er. Es gebe wieder Nachfrage nach dem Weihnachtsgottesdienst „mit richtig großer Predigt“.

Im Anschluss an die Gottesdienste bleibt die Kirche an Weihnachten bis Mitternacht auf. „Da kam vergangenes Jahr zum Beispiel eine Gruppe von Jugendlichen, die sonst nie in der Kirche waren. Sie haben Kerzen angezündet und ihre eigene Andacht gehalten. Sie haben auch ihre eigene CD mitgebracht. Es war Pop-Rock – aber Weihnachtslieder.“

ANNETTE LEYSSNER

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