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Der Tod des Euthanasie-Arztes

Der Psychiater Heinrich Gross soll während der NS-Diktatur für „wissenschaftliche Experimente“ Kinder ermordet haben. Auch die 14-jährige Hamburgerin Irma Sperling

Die Anklage wegen „neunfachen Mordes“ ist hinfällig. Der ehemalige NS-Euthanasie-Arzt Heinrich Gross ist kurz vor Weihnachten im Alter von 89 Jahren verstorben. Unter seinen Opfern waren auch Kinder aus den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg.

Vor fünf Jahren hatte das Wiener Straflandesgericht das Verfahren gegen ihn eröffnet. Keine 30 Minuten später vertagte das Gericht die Verhandlung. „Mein Mandant kann dem Prozess nicht folgen“, wandte sein Verteidiger ein. Im Kaffeehaus gab dieser allerdings gleich nach der Vertagung Interviews. Seitdem verhinderten kollegiale Bescheinigungen über eine „fortschreitende Hirndemenz“ die Wiederaufnahme. „Einen neuen Gerichtstermin habe ich auch nicht mehr erwartet“, erklärt die Hamburgerin Antje Kosemund.

Am 16. August 1943 waren ihre Schwester Irma Sperling und weitere 227 Mädchen und Frauen von den Alsterdorfer Anstalten in die Wiener Klinik „Steinhof“ deportiert worden. Knapp fünf Monate später starb die 14-jährige Irma nach „medizinischen Experimenten im Dienste der Wissenschaft“. Ihre Leiche wurde obduziert, das Gehirn präpariert.

„Ein Jahr später“, erzählt Kosemund, „kam eine Sterbeurkunde, auf der die typische Todesursache für Euthanasie-Morde stand: ‚Lungenentzündung'. Und eine Rechnung: 2.592,50 RM.“ Allein Psychiater Gross stellte 238 Totenscheine aus. „Mit den Forschungen an den Gehirnen seiner Opfer machte er sich seinen akademischen Namen, auch nach 1945“, weiß Kosemund, bis 1999 war er ein viel beschäftigter Gutachter.

Gross selbst räumte ein: „Ich habe viele Arbeiten über Gehirnschnitte gemacht, insgesamt 1.500 Gehirne. Ungefähr 300 von damals, aber nicht nur von Kindern.“ Aber mit den Tötungen habe er nie etwas zu tun gehabt. In diesem Jahr entdeckte Verhörprotokolle bestätigen aber die Tatbeteiligung.

Vor dem russischen Geheimdienst erklärte der österreichische Euthanasie-Hauptverantwortliche Erwin Jekelius 1948, dass sein „Gehilfe Dr. Gross einen praktischen Lehrgang zum Töten von Kindern“ absolviert habe, danach „begannen wir mit der Vernichtung kranker Kinder. Monatlich töteten wir zwischen sechs und zehn Kindern.“

Bei „aller gebotenen Vorsicht“ gegenüber Verhörprotokollen, betont Peter Schwarz vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, „decken sich die Angaben mit den Forschungsergebnissen“. Im August hatte die Staatsanwaltschaft die Dokumente erhalten. Einer Wiederaufnahme des Prozesses widersprach sie jedoch. Der Angeklagte sei „verhandlungsunfähig“. Andreas Speit

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