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„Ich rede als Kontaminierter“

NEOLIBERALISMUS Der Journalist Frank Schirrmacher beschäftigt sich mit den großen Fragen der Zeit. Ein Gespräch über die Ökonomisierung des Denkens

Frank Schirrmacher

■ Person: Geboren 1959 in Wiesbaden. Journalist, Essayist und Buchautor und seit 1994 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

■ Werdegang: Kam 1985 als Feuilletonredakteur zur FAZ und übernahm 1989 die Leitung der FAZ-Redaktion „Literatur und literarisches Leben“. Im Jahr 1994 wurde er Herausgeber mit der Zuständigkeit für Feuilleton und Wissenschaft, fünf Jahre später auch für die Berliner Seiten.

■ Coup: Schirrmacher gilt als geistiger Vater der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

■ Aktueller Bestseller: „Ego. Das Spiel des Lebens“. Blessing-Verlag, München 2013, 352 S., 19,99 Euro

GESPRÄCH JAN FEDDERSEN UND KAI SCHLIETER FOTOS BERND HARTUNG

Ein großes Plakat hängt in Frank Schirrmachers Frankfurter Büro an der Wand. Mittendrauf steht eine Widmung von Craig Venter für „Frank“. Das entschlüsselte menschliche Genom als biochemischer „Text“. Das passt gut, denn Texte sind Schirrmachers Leben. Die Bücherregale in seinem Büro sind bis unter die Decke aufgefüllt. Sein neues Werk hat hier jedoch kaum Spuren hinterlassen. Im Literaturverzeichnis zu „Ego. Das Spiel des Lebens“ steht hinter den bibliografischen Angaben: „Kindle edition“. Schirrmacher gelangt zu der Erkenntnis, dass sich aus den Labors amerikanischer Militärs eine Idee verbreitete. Die Spieltheorie. Er schreibt, dass unser aller Rationalität mittlerweile spieltheoretisch vorgeformt sei. Entsprechend einem mathematischen Formalismus, der auf Nutzenmaximierung abziele. Heute sei egoistisches Verhalten zum Maßstab der Vernunft geworden.

sonntaz: Herr Schirrmacher, Sie untersuchen, wie sich der Neoliberalismus in der Gesellschaft verankern konnte. Plötzlich erschien diese Weltanschauung unumstößlich und zeitlos wie ein Naturgesetz. Saßen Sie selbst dieser Ideologie auf?

Frank Schirrmacher: Ja, ich rede als Kontaminierter. Ich habe zwar nicht bewusst neoliberale Thesen vertreten. Ich hinterfragte aber nicht, was mit den ganzen Thinktanks passierte, die im Kalten Krieg aufgebaut worden waren. Ich sehe mich zu Zeiten der Dotcom-Blase noch mit einem Protagonisten der New Economy reden. Ich war ja selbst fasziniert von den Versprechungen. Der Mann erklärte mir: Jetzt kommt die nächste Phase. Jetzt wird jeder Aktienbesitzer, und deswegen brauchen wir bald auch keine Gewerkschaften mehr, denn es identifiziert sich ja jeder mit dem Unternehmen. Das war eine Verheißung, und zu dieser Zeit gab es ja Indizien, dass das auch erfüllt wird.

Der Politologe Francis Fukuyama sah das Ende der Geschichte anbrechen.

In Deutschland waren für die Indoktrination auf der Ebene einer vorgeblichen Alltagsrationalität Talkshows wie die von Sabine Christiansen maßgeblich. Es gab ja auch praktisch nichts anderes. Es wurde gepredigt, wenn die Menschen endlich von ihren eigenen Grenzen befreit würden, könne uns nichts mehr aufhalten. Es herrschte das Gefühl vor, dass wir keinen Feind mehr haben. Jetzt konnten wir zeigen, wer wir sind. Unfassbar viele Ressourcen wurden ja im Kalten Krieg verschwendet. Aber schon in der bipolaren Welt war rationaler Egoismus ein Gebot der Vernunft. Denn niemand wollte einen selbstzerstörerischen Atomkrieg.

Danach kam die Versprechung der sich frei regulierenden Kräfte, die scheinbar keines Korrektivs bedurften. Wie konnten sich intelligente Menschen so lange von dieser Vorstellung blenden lassen?

Nach dem Ende des Kommunismus haben die westlichen Gesellschaften einen neuen, stark reduzierten, aber ungemein wirkungsvollen Begriff von Rationalität entwickeltet. Dieser Begriff wurde in einer engen Kooperation zwischen Ökonomie und Kybernetik entwickelt.

Mit welchen Effekten?

Ich glaube, wir unterschätzen, dass wir in einen Zustand geraten sind, wo wir nicht über Moral, sondern über Rationalität diskutieren sollten, darüber, was heute als „vernünftiges Handeln“ gilt. Diese Debatte ist umso wichtiger, als wir im Zeitalter „vernünftiger“ Maschinen, der smart machines leben. Ich begreife die Digitalisierung auch weniger als eine Technologie. Sie ist eine Ökonomie. Das Bild des „Nervensystems“ trifft es genau. Tatsächlich haben wir es mit einer Technologie zu tun, in der sogar Reize ökonomisiert werden können.

Nach dem Kalten Krieg ging es um Interessenpolitik. Der Dokumentarfilm „Inside Job“ schildert, wie Lobbyisten der Finanzindustrie unter Reagan ihre Agenda nach einem klar definierten Plan umsetzten.

Reagan sprach auch als Erster von der „Ökonomie des Geistes“. Er reagierte damit auf die Deindustrialisierung der USA. Das klang erst wunderbar, aber darin steckte bereits der Keim für etwas Neues. Für eine umfassende Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche. Heute möchte mein iPhone herausfinden, was ich denke, und daraus Schlüsse ziehen. Google hilft uns bei der Suche, Amazon lernt, was wir mögen und unterbreitet uns Vorschläge, die früher der Buchhändler gab. Von den Hochfrequenzmärkten bis zum Facebook-Account: Alle erforschen sie unsere Präferenzen. Die tägliche Kommunikation wird ständig bewertet.

Präferenzen sind ein Rohstoff geworden.

Geistige Arbeit zu messen war ein Traum, der schon im 18. Jahrhundert geträumt wurde. Charles Babbage, der wahre Vater des Computers, glaubte an eine Dampfmaschine des Denkens. Die haben wir bekommen, vermutlich mit noch viel größeren Folgen als die Dampfmaschine selbst.

Was meinen Sie?

Wir müssen uns darüber klar werden, dass es viele gibt, die in unsere Köpfe hineinwollen. Im Kalten Krieg in den des Gegners. Dann, in den neunziger Jahren mit der Digitalisierung der ersten automatisierten Handelsbörsen, in den Kopf des Spielpartners. Jetzt, da wir alle zu Marktteilnehmern geworden sind, in unser aller Denken. Das gefällt uns auch, weil es uns Arbeit abnimmt und Amazon uns zum Beispiel Bücher empfiehlt.

Worin besteht das Problem?

Es bleibt darauf nicht beschränkt. Das ist wie eine Maschine, und sobald sie in der Maschine sind, halten sie das alles für ein Naturgesetz. Das Erste waren die Finanzmärkte, das Nächste sind wir alle durch die digitale Vernetzungsstruktur. Das ist keine Verschwörung und keine perfide Strategie, sondern einfach eine Folge von Effizienzdenken, Kosten-Nutzen-Berechnungen und von Maschinen, die diese Rationalität verkörpern.

Was bedeutet diese Ökonomisierung?

Zunächst ideologisch: Wenn jeder Gedanke und jede Absicht einen Wert darstellt, entsteht umgekehrt die Botschaft: Du kannst allein mit der Kraft deiner Gedanken alles erreichen. Wir können Profile von Menschen errechnen, die nicht nur künftigen Konsum, sondern auch künftige Risiken vorwegnehmen sollen. Das erinnert an digitale Risikomodellierungen der Börsen.

Eine Analogie mit Folgen?

Wir erleben die Verwandlung immer weiterer sozialer Bereiche in börsenähnliche Plattformen. Was ist ein Mensch noch in 20 Jahren wert? Welche seiner digitalen Spuren erlauben Rückschlüsse auf seine Kreditwürdigkeit? Vor wenigen Tagen kam die Meldung, dass das Fahrverhalten von Menschen von Telekommunikationsfirmen gescreent und an die Versicherung weitergegeben wird. Amazon weiß, wie wir seine E-Books lesen. Dem Konzern ist bekannt, welche Seiten wir überblättern und mit was wir uns intensiv beschäftigen. Bei den ersten Romanen wurden bereits Kapitel gestrafft, Enden gestrichen. In der nächsten Stufe wird Amazon vielleicht in die kreative Produktion eingreifen und sagen: Dieses Buch brauchst du gar nicht zu schreiben, das interessiert unsere Leser nicht. Lehnen wir uns doch einfach mal zurück und stellen fest: Im Jahre 2013 fragt uns eine neu entstandene Industrie permanent, wo wir uns gerade befinden, was wir kaufen, was wir gut finden, was wir suchen, um herauszufinden, was wir denken und wollen – dieses Faktum allein reicht aus, sich zumindest ein paar weitergehende Fragen zu stellen. Scott Patterson hat das in seinem Buch „Dark Pools“ mit Blick auf automatisierte Finanzmärkte getan.

Was ist schlimm an all dem?

Ich prognostiziere, dass nach den Börsen die Medien zum nächsten automatisierten Markt werden. Schon jetzt verändern Rückkopplungseffekte über Klicks, Echtzeitscreening, Konsumentenplebiszite wie Like-its die Nachrichtensetzung. Christoph Keese hat gerade eine interessante Analyse geliefert, in der er darauf hinweist, dass mobile Endgeräte mit ihren kleinen Bildschirmen, die Rolle des kuratierenden Journalisten noch einmal verändern. Er sagt, und ich stimme ihm völlig zu, wer vom Journalismus redet, muss künftig, jenseits der ganz wenigen Marken, die das noch anders schaffen, von künstlicher Intelligenz reden. Und damit sind sie wieder bei der Frage der neuen Rationalität, die, wie in einer noch unbegriffenen Aufklärung, gerade dabei ist, die Welt zu verändern. Darum sind in den letzten zehn Jahren diese Giganten der Bewusstseinsindustrie entstanden. Anders als Enzensberger einst meinte, sind Zeitungen dabei nur ein winziger Teil. Das alles wirkt sich auf uns aus. Menschen optimieren ihre Biografien. Sie verändern ihre Profile im Hinblick auf ihren künftigen Personalchef oder wegen der Schufa. Tweets werden mit einer bestimmten Absicht abgesetzt werden. Alles geschieht mit Kalkül.

Ein soziales Pokerspiel. Aber das gab es schon, als unsere Großeltern sich kennenlernen wollten und umeinander buhlten.

Das Problem dabei ist, dass heute Systeme eine immer größere Rolle bekommen, die Menschen auf ihr egoistisches Interesse reduzieren und ja durchaus zu Recht sagen: Ich muss wissen, was einer will, um ihm etwas verkaufen zu können. Google-Chef Eric Schmidt sagt: „Wir werden vor Ihnen wissen, was Sie wollen.“ Egoistisches Verhalten ist der Kern einer neuen Rationalität geworden: Wenn Sie klug sind, denken Sie an sich. Was aber ist mit Präferenzen, die sich nicht in „Märkten“ manifestieren? Oder die vorübergehend keine Nachfrage haben? Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Rechtsfragen. In der Eurokrise haben wir gesehen, dass Märkte Recht außer Kraft setzen können.

Geschichte verläuft aber nicht linear.

Natürlich nicht. In einer Welt, die sich von Google oder Apple oder von Big Data leiten lässt, wird der Vorteile haben, der nicht mitmacht. Der Vorgang heute ist aber zu groß, zu säkular, um ihn auch nur annähernd in seinen Folgen zu verstehen. Vor allem, weil er so unmittelbar bis in die intimsten Lebensverhältnisse durchschlägt. Kein Viktorianer hatte eine Dampfmaschine bei sich zu Hause stehen; die Effekte spürte er nur indirekt. Heute haben wir sie in der Tasche. Wenn Google Street View bei einer Reise in Venedig künftig den Tipp gibt, dass in der nächsten Straße die Szene eines Lieblingsfilms von mir gedreht wurde, ohne dass ich vorher gesagt habe, was überhaupt mein Lieblingsfilm ist, dann ist das …

Praktisch?

Das ist es ja. Man wäre ja verrückt, wenn man nicht die Vorteile sähe. Dennoch, da würde ich ganz in linker Tradition kritisieren, dass dieses Potenzial heute zentral von Giganten verwaltet wird. Buchhandlungen müssen dann Pokémon-Puppen verkaufen, um überhaupt zu überleben, Zeitungen verschwinden, und diese Konzerne haben zum Teil mehr Geld auf der hohen Kante als ganze Staaten.

Die Politik sollte also regulierend eingreifen?

Mir sagte ein politischer Insider, der auch bei der Eurokrise aktiv involviert war, dass die Politik nicht nur nichts mehr zu sagen hat. Es ist noch viel gravierender: Die Politik musste partiell die Bürger in die Irre führen. Denn der eigentliche Adressat von Politik sind heute die Märkte – und ich lasse das fast perfekte Zusammenspiel zwischen Märkten und Staat jetzt mal beiseite. Wenn man nun bedenkt, dass auf den Finanzmärkten die Hälfte des Handels von Maschinen und nicht von Menschen gesteuert wird, und man das zusammendenkt, sind wir schon sehr nah an einer Science-Fiction-Welt.

Das Kapital ist ein scheues Reh – wie Sie in ihrem Buch das Credo der Ökonomie zitieren.

Frau Merkel regiert durch Schweigen. Das muss einem doch zu denken geben in einer Kommunikationsgesellschaft und in einer derartigen Vertrauenskrise. Schweigen ist das erfolgreichste Modell, und das entspricht der spieltheoretischen Modellierung von Nash.

John Nash, der Spieltheoretiker, der später für seine Theorie mit dem Nobelpreis geehrt wurde.

Er stellte sich folgende Situation vor: Zwei Personen können nicht miteinander kommunizieren, wollen aber miteinander einen Deal machen.

Das Verhalten des anderen muss berechnet werden?

So ungefähr. Information spielte im Krieg immer eine wichtige Rolle, im Kalten Krieg wurde sie zum Zweck an sich. Das war die Geburt der Informationsökonomie. Sie kommt aus einem militärischen Kontext. Es geht darum, zu ergründen, was der andere denkt, um das Gegenüber imitieren zu können – um es berechenbar zu machen. Das war ja das, was sie in Ost und West die ganze Zeit taten.

Sie glauben nicht an den Erfolg kooperativer Modelle?

Die Bank of America hat nicht ohne Grund ein Szenario der Eurokrise entworfen, das einzig auf dem Nash-Äquilibrium der Spieltheorie aufbaut. Eine Welt, in der – wie Sonja Amadae schrieb – eine völlig andere normative Moral herrscht. Und natürlich gibt es auch kooperative Modelle der Spieltheorie. Nur spielen sie in einer Ökonomie anonymer Einzeltransaktionen keine Rolle. Das ist der Grund, warum Staaten und Märkte im Augenblick sehr perfekt dieses Pokerspiel spielen. Aber funktioniert das in einer Demokratie auf Dauer? Kann sie auf Dauer damit leben, das alle zwei Monate der Untergang prognostiziert wird – und wahrscheinlich einzig aus dem Grund, um durch Angst, nicht durch Ideen, Visionen oder gemeinsame Ziele, Rationalität zu erzeugen? Also nicht: „Wir schaffen durch die Krise ein starkes Europa, in dem wir bereit sind, Souveränitätsrechte abzutreten.“ Sondern: „Wir gehen unter, wenn wir nicht in die Souveränitätsrechte anderer Staaten eingreifen.“ Mir würden ja schon ein paar pragmatische Schritte reichen.

Welche Schritte denn zum Beispiel?

Eine deutsche Politik, die es nicht schafft, den Hochfrequenzhandel zu regulieren, hat versagt. Die Politik kapituliert, wenn ernsthaft erwogen wird, ob in bestimmten Ländern Europas in so einer Situation besser nicht gewählt wird, weil dies Märkte verunsichern könnte. Das ist die Normalisierung des Ausnahmezustandes.

Sie klingen wie ein wacher Sozialdemokrat. Die bürgerlichen Parteien sind Träger der Ideologie, die Sie kritisieren.

Das Bürgertum war für mich immer durch eine Sache definiert, und deswegen empfinde ich mich als einen Bürgerlichen: Wer einen Bürgerlichen sieht, muss wollen, dass es immer mehr gibt, die den Aufstieg schaffen – dass es also immer mehr Bürgerliche gibt. Die SPD hat die erste industrielle Moderne sozial gezähmt. Ich glaube, heute fehlt das Bewusstsein dafür, dass das, was wir mit kümmerlichen Begriffen wie „Globalisierung“ und „Digitalisierung“ umschreiben, vielleicht genauso gewaltig ist wie die Industrialisierung. Nur dass es jetzt, zumindest in den westlichen Gesellschaften, nicht mehr nur um die Anpassung und den Schutz des Körpers geht, sondern des Geistes.

Aber wollen viele Linke mit dem Neoliberalismus nicht auch zugleich den Liberalismus loswerden?

Ach, solange es noch Leute wie Gerhart Baum gibt, wird man immer wissen, was Liberalismus bedeutet. Doch weil wir mit einer Gehirnhälfte noch dem 20. Jahrhundert verhaftet sind, gibt es auch viele Linke, die sich gar nicht bewusst sind, dass sie tatsächlich neoliberal denken. Aber das ist die Baustelle der taz.

Kai Schlieter leitet das Ressort Recherche und Reportage der taz ■ Jan Feddersen ist taz-Redakteur für besondere Aufgaben

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