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Jungs, die neuen Benachteiligten

Bildungsnachteile – seit Pisa denkt man da zuerst ans vermeintlich starke Geschlecht. Ein Drittel der Jungen zählt zu den notorischen Schlechtlesern. Schlechte Noten und Sitzenbleiben werden ein Bubenproblem. Schon fragen erste Forscher nach anderen Lernformen und „jungenspezifischen Inhalten“

„Förderung in der Schule muss ja heute wohl Förderung von Jungen heißen“

VON MIRJAM MEINHARDT

Montagmorgen in der vierten Klasse einer Grundschule in Hessen. Die große Pause ist gerade vorbei. Noch sitzen nicht alle auf ihren Plätzen, es herrscht ziemlicher Tumult. Ruhiger wird es erst, als die Lehrerin beginnt, die Hefte zurückzugeben. Letzte Woche hat Laura eine Deutscharbeit geschrieben. Für die Zehnjährige und ihre Freundinnen kein Grund zur Panik. Sie lesen nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause, das hilft in Deutsch. Anders hingegen geht es Max und Janek, die lieber den Computer traktieren. Die beiden Jungen sind kein Einzelfall.

Denn Jungen haben es in der Schule oft schwer. Alle Statistik spricht neuerdings gegen sie. Sie bleiben häufiger sitzen, werden später eingeschult, verlassen öfter die Schule ohne Abschluss, haben schlechtere Noten und sind auf Haupt- und Sonderschulen überproportional stark vertreten. Dazu kommt, dass sich der männliche Teil der Schöpfung in der Schule nicht so richtig wohl fühlt. Zumindest im Vergleich zu den Mädchen.

Männlichen Geschlechts zu sein ist – neben Migrationshintergrund oder niedrigem sozialem Status – der Risikofaktor für schlechte Leistungen. Die internationale Studie zur Schulleistung von 15-jährigen SchülerInnen, Pisa, zeigt das genauso wie die gleiche Studie für Zehnjährige (Iglu). Der beständigste aller Nachteilsfaktoren ist das Geschlecht, egal in welchem Land man Kompetenzen misst. Die Jungs sind benachteiligt. Nach Jahren der weiblichen Emanzipation und gezielten Förderung von Frauen und Mädchen lohnt es sich, auf das vermeintlich „starke Geschlecht“ zu achten.

Bei der Basiskompetenz Lesen sind die Jungen ganz extrem im Nachteil. International beträgt der Vorsprung der 15-jährigen Mädchen im Durchschnitt 34 Punkte – das ist mehr als ein Lernjahr. In Deutschland trennen die Geschlechter sogar 42 Punkte. Dabei ist Lesen als Schlüssel- und Basiskompetenz extrem wichtig für selbstständiges Lernen. Jungen leiden in der Folge auch häufiger an Sprachentwicklungsstörungen. Ob ein Kind gut lesen und schreiben kann, wird damit zu einer Frage des Geschlechts. „Förderung in der Schule muss ja heute wohl Jungenförderung heißen“, sagt angesichts dieser Leistungsunterschiede Ute Erdsiek-Rave (SPD), schleswig-holsteinische Bildungsministerin und neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz.

Der Vergleich von Iglu und Pisa liefert interessantes Material. Auch mit zehn Jahren sind Mädchen beim Lesen schon besser. Aber der Unterschied ist in manchen Bundesländern, etwa in Baden-Württemberg, minimal. Während die Grundschüler also teilweise kaum geschlechtsspezifische Kompetenzunterschiede aufweisen, gibt es bei den 15-jährigen Pisa-Schülern eine enorme Diskrepanz. Zwar sind die Jungen dafür im Schnitt in Mathematik besser, aber dieser Vorsprung ist mit dem der Mädchen im Bereich der Lesekompetenz nicht zu vergleichen.

Nach der Grundschule entwickeln sich Jungen und Mädchen auseinander. Man könnte dies durch die beginnende Pubertät erklären. Aussagen über unterschiedliche Hirnstrukturen bei erwachsenen Männern und Frauen bezüglich der Sprachkompetenz sind umstritten. Geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen, sind aber nicht unbedingt auf biologische Ursachen zurückzuführen. Vielmehr haben sie damit zu tun, ob es Lehrer und Eltern schaffen, ihre Schützlinge zu motivieren. Und auch psychologische und gesellschaftliche Faktoren dürften eine Rolle spielen. Zu diesem Schluss kommt Sigrid Schmitz von der Universität Freiburg. Die Biologin und Geschlechterforscherin kann in ihren Untersuchungen zu verbaler Kommunikation und Sprache gar keine geschlechtsspezifischen Unterschiede im Gehirn finden. Das zeigen auch andere Studien.

Zwar sind Jungen, wenn es um verbale Kommunikation und Lesekompetenz geht, auch international durchweg schlechter. Aber nicht in allen Ländern tritt dies so massiv auf wie in Deutschland. Die Niederlande und Japan fördern ihre Schüler individueller – und verringern so geschlechtsspezifische Unterschiede, auch bei den 15-Jährigen. In der Lehrerfortbildung wird dem Phänomen mit „reflexiver Koedukation“ begegnet. Dabei geht es darum, dass Jungen und Mädchen alle ihre Fähigkeiten und Kenntnisse entwickeln können – auch durch teilweise getrennten Unterricht. Stärken und Schwächen der Geschlechter werden oft anders entwickelt – und deshalb muss auch differenziert gefördert werden, ganz egal, ob Unterschiede biologischer oder gesellschaftlicher Natur sind. Zurück zu reinen Mädchen- und Jungenschulen möchte aber niemand.

Die bei Pisa abgefragte Lesekompetenz bezieht sich nicht auf das Entziffern von Buchstaben. Die Forscher gliedern die Lesefähigkeit in fünf Kompetenzstufen. Die Anforderungen steigen von oberflächlichem Textverständnis bis zur Fähigkeit „unvertraute komplexe Texte flexibel zu nutzen“. Betrachtet man die Verteilung auf diese Kompetenzstufen, sind in den unteren Stufen, im so genannten Risikobereich, besonders viele Jungen zu finden. Fast ein Drittel der Jungs, 28 Prozent, zählen zu den notorischen Schlechtlesern.

Hannelore Daubert vom Institut für Jugendbuchforschung der Universität Frankfurt erklärt sich dies auch damit, dass Männer und Jungen nicht nur weniger lesen, sondern eben auch anders. Gerade hier könnte laut Daubert einer der entscheidenden Punkte liegen. Die Leistungsdifferenz geht nämlich fast komplett zurück, wenn Jungen und Mädchen befragt wurden, die gleich gerne lesen.

Jungen lesen lieber Krimis, Fantasy-, Horror- und Abenteuergeschichten. In der Schule aber sind solche Texte die Ausnahme. Das Kompetenzdefizit könnte also tatsächlich ein Motivationsproblem sein, argumentiert Daubert. Außerdem ist der größte Teil der Lehrerschaft weiblich. Damit kommen möglicherweise „jungenspezifische Inhalte“ zu kurz, erklärt Christine Garbe von der Universität Lüneburg. Die Einführung in die so genannten Bildschirmmedien hingegen geschehe hauptsächlich durch Männer, erklärt die Wissenschaftlerin. Leider kein Vorteil – denn Gameboy, Spielkonsole und Computer, oft der Kleinen liebstes Spielzeug, sind unter Jungs eine zusätzliche Konkurrenz fürs Buch.

Der Hamburger Carlsen-Verlag hat seit dem ersten Harry-Potter-Roman bis Ende September letzten Jahres 20,7 Millionen Bände verkauft. Harry begeistert Jungen wie Mädchen. Ob dies aber der Beginn einer neuen Leselust ist? Befragungen des Stuttgarter Instituts für angewandte Kindermedienforschung ergaben, dass die Bücher teilweise nur angelesen werden. Was verkauft wird, läst sich mit Zahlen belegen. Was Kinder wirklich lesen, weiß wohl niemand.

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