: „Ich bin Bassist, darf ich mal?“
Seit 40 Jahren steht Jazzmusiker Hans Hartmann auf der Bühne. Sein Instrument und Markenzeichen ist der Chapmanstick, ein zwölfsaitiges Monstrum, für das man eigentlich vier Hände bräuchte
Von HANS W. KORFMANN
Hans Hartmann kennt viele. Noch mehr kennen ihn. Vielleicht läuft er so gern mit diesem abwesenden Blick durch die Bergmannstraße, damit er nicht ständig grüßen muss. Denn Hartmann erweckt, wann immer man ihm auf der Straße begegnet, den Eindruck, als würde er just in diesem Moment ein neues Stück komponieren, als ginge ihm gerade eine wunderbare Melodie durch den Kopf. „Aber es kann auch sein, dass ich gerade an eine Frau oder an meine Telefonrechnung denke.“ Selbst wenn Hartmann sich mit einem Gesprächspartner ins ruhige Outback jenseits des Mehringdamms zurückzieht, klopft ihm ständig jemand auf die Schulter. Kürzlich stand plötzlich Bob Lennox vor seinem Tisch in der Pizzeria Primavera.
Lennox und Hartmann haben in den Achtzigern viel Musik zusammengemacht. Hartmann hatte sich gerade seinen ersten Chapmanstick bei Emmet Chapman persönlich abgeholt, da rief eines Abends Georgio vom Quasimodo an und sagte, dass da ein Amerikaner wäre, der noch einen Bassisten suche. „Lennox war nicht nur ein guter Sänger, mit dem konnte man richtig guten Jazz spielen.“ Also machten sie eine LP zusammen, auf der man erstmals Hans Hartmann am Chapmanstick hört.
Heute ist der Stick Hartmanns Markenzeichen: Dieses zwölfsaitige Gitarrenmonstrum, diese verwirrende Kombination von Bass- und Gitarre, für die man eigentlich vier Hände bräuchte und zwei Köpfe. Das Bob Lennox Quartett gibt es heute nicht mehr. Aber Lennox und Hartmann spielen immer wieder einmal zusammen, in einer ihrer Lieblingskneipen etwa, bei Matto am Chamissoplatz. Unter Freunden sozusagen.
Im Quasimodo spielt Hartmann nur noch selten. Obwohl es eine Zeit gab, in der er kaum eine Session im „Quasi“ ausließ. Der Keller war ein Stück Heimat für viele Jazzmusiker der Stadt – ähnlich wie in den Sechzigern die legendäre Jazz Galerie, wo Hartmann Hausbassist war, jeden Abend auf der Bühne stand und mit jedem spielte, der ein Instrument dabei hatte. Die Galerie war weltbekannt.
Und wenn die Berliner Jazztage stattfanden, schauten nach den Auftritten die Musiker von Charles Mingus oder Chet Baker zur Jamsession vorbei. „Chet Baker, das war dieser weiße Trompeter, von dem Miles sagte, er sei der Einzige, der uns gefährlich werden könnte!“ Sie spielten dann mit Hans Hartmann am Kontrabass. „Manchmal dauerte so ein Stück vier Stunden: So viele Solisten kamen und reichten einander das Mikrofon in die Hand.“
Aber auch im Quasimodo hatte die Session Tradition, auch da tauchten plötzlich unangekündigt berühmte Musiker auf und spielten zum Vergnügen. 1978 feierte Hartmann in dem Club seinen 36. Geburtstag. Das „war die verrückteste Session, die ich je erlebt habe. Ballard war da, Cooper Terry spielte auf der Mundharmonika, und ich weiß nicht, wer noch alles. Mein Vater saß am Klavier und klimperte Volkslieder, meine Mutter jodelte. So etwas hab ich nie wieder gehört.“ Hartmann zieht noch heute die Stirn in Falten, wenn er an diesen Abend zurückdenkt.
Dabei hat Hans Hartmann nichts gegen das Jodeln. Er ist damit aufgewachsen. 18 Jahre lang ist er mit seinen ruhelosen Eltern und drei Geschwistern durch die Schweizer Berge und Täler gezogen. Sie blieben nie länger als vier Jahre an einem Ort. „Das schien so eine Art Lebenskonzept meiner Eltern gewesen zu sein.“ In diesem Wanderleben mit wechselnden Freunden, Schulen und Sprachen – „mal waren wir im französisch-, mal im deutschsprachigen Teil der Schweiz“ – wurde das kleine Transistorradio zu einem wichtigen Begleiter.
Jeden Abend saß Hans davor und hörte Jazz. Mit 18 kaufte er dann im Appenzell von einem Bauern für 320 Schweizer Franken seinen ersten Kontrabass und spielte mit den „Dark Town Strutters“ Stücke von Chris Barber. Als die Schulband die Möglichkeit erhielt, in einem renommierten Jazzclub zu spielen, reisten die vier „Strutters“ nach Zürich und hatten ihren ersten richtigen Auftritt. Dafür mussten sie einen Tag die Schule schwänzen.
Es war also nur logisch, dass Hans, als er „unehrenhaft aus der Schule entlassen“ wurde, sich sagte: „Na, dann mach ich eben Musik.“ Hans Hartmann ging nach Zürich, wo jeden Abend in einem Jazzclub ein amerikanischer Jazzpianist auftrat. Der spielte von fünf bis sieben und von acht bis zwölf. „Das war richtig Arbeit. Ich bin hin und hab gesagt: Ich bin Bassist, darf ich mal?“ Der Mann am Piano nickte. An diesem Tag begann der musikalische Lebenslauf des Hans Hartmann. Beinahe jeden Abend spielte er nun mit dem amerikanischen Musiker. Der Mann hieß Champion Jack Dupree. In Amerika kannte ihn jeder, in der Schweiz war seine Fangemeinde noch winzig. Zehn Jahre später ist Hans Hartmann ihm im Quartier Latin in Berlin wiederbegegnet. Da war Dupree bereits eine Legende. „Ich bin Bassist“, grinste Hartmann, „darf ich mal?“ – und der Champion nickte. „Es war so, als hätten wir den Tag zuvor noch zusammengespielt.“
Und noch einmal, wieder viele Jahre später, sah Hartmann seinen alten Lehrer. Das war in Rotterdam. Da traf Dupree noch auf einen anderen alten Schüler: Bob Dylan. Dupree legte seine Hand auf Dylans Schulter und machte noch immer die alten Witze. „Aber Dylan war reserviert. Der war halt der Star. Spaß gemacht hat es trotzdem, vor 70.000 Menschen zu spielen“ – auch wenn das Duo Dupree-Hartmann nur so etwas wie der Füller in der Umbaupause zwischen Eric Clapton und Dylan war.
„Sonst, beim Jazz, bist du ja immer ganz nah am Publikum. Und das hier war das genaue Gegenteil.“ Hier standen Mythen auf der Bühne und Autogrammjäger dahinter. Und weil Hans Hartmanns Frau ein bisschen so aussah wie Yoko Ono und im Bühnenbereich herumspazierte, durfte auch sie einmal erleben, wie es ist, wenn man Autogramme geben darf.
An all das war 1967 noch nicht zu denken, als der „beste Amateurbassist der Schweiz“ mit zwei Freunden und ohne einen einzigen Auftrag in der Tasche durch Europa tourte, immer den riesigen Bass und das komplette Schlagzeug im Gepäck. In Berlin ist er dann hängen geblieben. Ausgerechnet im „Old Eden Saloon“ am Ku’damm bekam Hartmann sein erstes Engagement.
Dort trat „so ’ne Kombo mit ’nem Vibraphonisten auf“. Hartmann ging hin und sagte sein Sprüchlein auf: „Ich bin Bassist, darf ich mal?“ Ein paar Tage später war er engagiert und spielte sechs Tage die Woche. „Das war richtig Arbeit.“ Und richtig bezahlt wurde sie auch. Der Vibraphonist blieb deshalb auch glatt zehn Jahre lang. Hans Hartmann kündigte schon nach vier Monaten. Aber er hatte Gefallen an Berlin gefunden.
Er war gerade 25, „ein Jüngling, keine Frau, kein Alk, keine Drogen“, als er in die Stadt kam. Der Mann aus den Alpen „trug ’ne Krawatte und kurzes Haar. Aber das änderte sich dann schlagartig. Plötzlich ging es jede Nacht rund. Manchmal hatte ich sieben verschiedenfarbige Drinks vor mir.“ In Berlin bekam sein Leben einen anderen Geschmack und auch, wenn er zwischendurch mal einige Monate oder Jahre an der Küste oder in Köln oder im Odenwald lebte, wenn er am Schauspielhaus in Hamburg spielte, mit Udo Lindenberg und drei Frauen in einer WG wohnte und eine Platte mit ihm machte oder wenn er Ende der Achtziger mal wieder heiratete und sogar nach Köln zog – im Grunde hing Hartmann doch längst fest in Kreuzberg.
Auch die Jahre 1973 und 74, als er mit der Kultband Guru Guru durch die Lande tourte, brachten ihn nicht vom musikalischen und vom geografischen Weg ab. Natürlich machte es Spaß, in dem großen Wirtshaus in Langetal im Odenwald zu wohnen, mit lauter Katzen, die immerzu Junge bekamen (was nichts machte, da sie in den Groupies der Band begeisterte Abnehmerinnen fanden). Sie probten im alten Schankraum, „der ideal war, weil die Anlagen damals ja noch wahnsinnig groß waren und so viel Platz wegnahmen“. Hartmann gewöhnte sich daran, mit seinem E-Bass auf der Bühne herumzuspazieren. Es war ein „völlig anderes Gefühl als mit dem schweren Kontrabass“. Und auch die Szene war eine ganz andere: Die vielen Drogen, immer unterwegs, ständig im Auto, überall Freunde, „ein Hotel brauchten wir eigentlich nie. Na klar war man froh, wenn man nach drei Wochen wieder daheim war. Aber es war nie so, dass ich gesagt hätte: nie wieder!“
Auf den Festivals spielten sie immer dieselben Stücke, jedes Mal den „Elektrolurch“, und sie trafen auf immer dieselben Gruppen: „Amon Düül, Embryo, Birth Control, Nectar, Popol Vuh und wie sie alle hießen. Im Jazz ist das ganz anders.“ Da ist alles in Bewegung, da formieren sich die Gruppen ständig neu.
Auch Hartmann sucht ständig neue Musiker, was nicht immer einfach ist. Denn die eingespielten Solisten sind gefährlich: „Die fangen bei ’nem Blues plötzlich an, irgendwas Fetziges zu spielen.“ Andererseits müssen sie gute Techniker sein. Denn „wenn mal einer nicht gut drauf ist, dann muss man eben genügend Material in den Fingern haben!“ Dann spielen die Finger allein.
Die Liste der Musiker, mit denen Hartmann spielte, ist lang. Er lächelt, grinst oder lacht, wenn er an all diese Typen zurückdenkt, die „vollkommen durchgeknallt“, „wahnsinnig“, „einfach gut“ waren. Er weiß über jeden eine Geschichte zu erzählen. Von denen, die keine Geschichten haben, weiß er nicht einmal mehr den Namen. Es sind trotzdem viele. 40 Jahre lang steht Hartmann nun auf der Bühne, das sind viele Geschichten.
Manchmal, wenn er so über die Bergmannstraße läuft, denkt er zurück. Oder er denkt an die Telefonrechnungen. Oder eben doch an eine Melodie. Während des Laufens, gesteht er, kann er sich besser konzentrieren. Trotzdem „dauert es dann manchmal noch zehn Jahre“, bis so ein Stück fertig ist – oder zumindest so weit ist, dass man es spielen kann. Fertig ist es eh nie. „Es kommt einem was in den Sinn, man spielt, schreibt es auf, spielt es nie wieder – und ein paar Jahre später fällt einem doch wieder etwas dazu ein. Ich habe da Stapel von Notenblättern, die sind dreißig Jahre alt, und die sind mir schon vollkommen fremd!“
Manche aber sind ihm auch mit der Zeit nicht fremd geworden. 35 Jahre ist es her, da engagierten ihn ein paar Typen in Hamburg für eine Plattenproduktion als E-Bassisten. Als Hartmann ins Studio kam, „hatten die noch gar nix fertig“. Während „die“ nun irgendwie ein Arrangement zusammenbastelten, setzte Hartmann sich ans Klavier und komponierte inmitten des Lärms ein Stück, das er „Swindia“ nannte.
15 Jahre später, 1984, veröffentlichte er mit der Band Stickstoff eine Platte namens „Swindia“, und wiederum 20 Jahre später, am 27. September 2003, fand in der Passionskirche ein Konzert statt, das den Titel „Swindia“ trägt: Switzerland meets India, Hans Hartmann meets Ravichandra Kulur. Es war das erste Mal, dass Hans Hartmann tatsächlich mit einem Inder spielt. 35 Jahre hat es gedauert. Und da merkt man: Musik, das kann „richtig Arbeit“ sein.
Hans Hartmann and Guests treten am Sonntag in der Kulturbar Oxident in der Frankfurter Allee 53 auf
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