Das Zeitzimmer

Höhlenartig braun oder doch ganz perfekt gestrichen? Warum die Wohnung von M. nur als Trugbild existiert

Wenn ich M. besuchte, verlief ich mich oft im Treppenhaus. Das lag wohl daran, dass ich nur alle paar Monate vorbeikam und seine Wohnung überhaupt höhlenartig war. still und halbdunkel irgendwie, in Erdtönen gestrichen, außerhalb der Zeit, die im Leben eines allein lebenden Arbeitslosen um die fünfzig nicht so ruckartig, sondern eher gemächlich vergeht. Deshalb hatte man in seiner Wohnung immer das Gefühl, in einer Erdgeschosswohnung zu sein und wenn man sie verließ, wunderte man sich, dass man im zweiten Stock gewesen war. Und wenn man ihn wieder besuchte, erinnerte man sich an dieses Gefühl der Verwunderung und meinte – weil sich die Verwunderung in der Erinnerung vergrößert hatte - M.s Wohnung müsse unter dem Dach liegen.

Er wartete ja auch nie an der geöffneten Tür, sondern ließ sie einen Spalt offen stehen, in der Annahme, man werde den Weg schon in sein Zimmer finden. Meist ging ich jedenfalls zunächst in den vierten Stock, schüttelte dort, verwundert über meine Vertrottelung, den Kopf und ging dann wieder dahin, wo er in Wirklichkeit wohnte.

M. gehörte zu den wenigen, bei und mit denen man gut herumsitzen konnte. Er war ein Kind der frühen 70er sozusagen und wohl mal Hippie gewesen. Als ich ihn das erste Mal mit einem Freund besuchte, lief eine alte Platte von Aphrodite’s Child. Wir hatten über die psychedelische Phase von Demis Roussos gesprochen, und er hatte sich gefreut, dass ich das kannte. Meist saß M. an seinem Tisch und trank Rotwein aus Tetrapaks, während der auf leise gestellte Fernseher lief.

Manchmal kamen andere und erzählten etwas. M. hörte gerne zu. Wenn eine Geschichte stockte, hakte er kurz nach. Auf Streitgespräche ließ er sich niemals ein. Es war gut, wenn Dritte kamen, denn eigentlich schwieg ich auch lieber und überlegte, ob die Zukunft im vierten Stock und die Vergangenheit im Keller oder Erdgeschoss wohnen müssten und wie die Erinnerung da wieder rauskommen könnte.

In der Erinnerung sind die Vorhänge alt und schwer und die wenigen Möbel alle von früher. Wenn man da ist, ist es anders, als man es sich zuvor vorgestellt hatte. Das Erinnerungsbild ist eine Tarnung, die sich über die Wohnung legt, sobald man sie verlässt. Erst nach zwei Jahren merkte ich, dass die Wohnung von M. perfekt gestrichen und eingerichtet war, dass jedes Ding an seinem richtigen Platz stand. Und an keinem anderen Ort hätte stehen können.

DETLEF KUHLBRODT