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Tanzen gegen die Traurigkeit

MIGRANTEN Die erste interkulturelle Tagespflege in Hamburg versucht, älteren Zuwanderern ein Stück Heimat zu bieten. Viele von ihnen sind schon lange in Deutschland und jetzt, im Alter, allein

Wenn Einwanderer alt werden, sind sie häufiger krank oder pflegebedürftig als Deutsche. Die meisten haben ein Leben lang harte Arbeiten verrichtet und sind selten zum Arzt gegangen

VON TINA STADLMAYER

An der Wand hängt ein Bild mit einer afghanischen Landschaft, an einem großen Tisch sitzen ältere Herren. Einer von ihnen liest ein Gedicht auf Farsi, übersetzt heißt es da: „Ich bin alt geworden, aber ich habe die Lebenslust der Jugend in mir“. Der Mann der die Verse vorträgt, ist Ahmad Shah Sadozai, 85 Jahre alt und eine vornehme Erscheinung. Sadozai hat das Gedicht geschrieben, es ist sein neuestes, und seine Zuhörer sind kaum jünger als er. Sie alle sind Gäste der Tagespflege Ariana in Hamburg-Wandsbek. Zweimal die Woche treffen sie sich und unterhalten sich über den Zustand der Welt.

Im Raum nebenan sitzt eine ältere Dame im langen Rock auf einem Hometrainer und strampelt fleißig. „Seitdem ich hier regelmäßig trainiere, schmerzen meine Knie weniger“, sagt sie, ohne außer Atem zu kommen. Auf die Frage nach ihrem Alter stutzt sie kurz und sagt dann, sie sei 67.

Etwa vierzig Damen und Herren kommen regelmäßig in die Tagespflege Ariana. Die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan und dem Iran, aber auch einige Türkinnen, ein Herr aus Montenegro und eine Deutsche sind dabei. Sie leben entweder alleine oder in Familien, die nicht viel Zeit für sie haben. Denn es ist ein Mythos, dass in Einwanderer-Familien von der Großmutter bis zum Enkelkind alle unter einem Dach wohnen und immer füreinander da sind.

Afghanische Reiter

Abdullah Ahrari, der Leiter der Tagespflege, begrüßt seine Gäste mit einem Händedruck. Ahrari ist ein quirliger Mann mit einem modischen Kinnbart, er trägt Jeans und Lederjacke. Vor einem Jahr hat der 52-Jährige die Räume in dem unauffälligen Zweckbau gemietet. Auf die Idee mit der interkulturellen Tagespflege kam er durch seinen ambulanten Pflegedienst, mit dem er viele Einwanderer zu Hause betreut. Ahrari bekam mit, dass viele ältere Einwanderer krank werden. Diagnose: Einsamkeit. „Ältere Migranten brauchen eine Begegnungsstätte, die ihnen ein Stück Heimat bietet“, sagt Ahrari.

Die meisten Gäste werden morgens von einem Fahrdienst abgeholt, sie verbringen den Tag bei Ariana und werden am Nachmittag wieder nach Hause gebracht. Einige verzichten auf den Fahrdienst und kommen mit dem Bus oder der U-Bahn. Bei Ariana gibt es zwei orientalische Bet- und Erinnerungszimmer, mit bunten Sitzkissen und Wandmalereien. Im Zimmer für die Frauen sind Palmen und das Meer zu sehen, im Männer-Raum eine Szene mit afghanischen Reitern. Die Bäder sind mit niedrig hängenden Duschschläuchen ausgestattet. Für die muslimischen Gläubigen ist es so leichter, ihre rituelle Waschungen vorzunehmen.

Es sei wichtig, die Bedürfnisse der Gäste zu kennen, sagt Ahrari. Muslimische Frauen zum Beispiel wollten körperliche Dinge nicht mit männlichen Pflegern besprechen oder sich von ihnen waschen lassen. Zur Philosophie von Ahraris Unternehmen gehören gegenseitige Achtung und Toleranz. „Ich bin stolz darauf, dass in meinem Team, Muslime, Christen, Atheisten und Juden respektvoll zusammenarbeiten“, sagt er.

Ahrari hat eine Marktlücke entdeckt, die Nachfrage nach kultursensibler Altenpflege ist groß. Allein in Hamburg leben heute etwa 49.000 MigrantInnen, die über 60 Jahre alt sind. Die hohe Zahl hängt damit zusammen, dass jetzt die erste Generation derer, die als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen, alt geworden ist. Wenn Einwanderer alt werden, sind sie häufiger krank oder pflegebedürftig als Deutsche. Die meisten haben ein Leben lang harte Arbeiten verrichtet und sind selten zum Arzt gegangen.

Ariana ist in den vergangenen Monaten tatsächlich zu einer Begegnungsstätte geworden: In einem Nebenzimmer treffen sich die Mitglieder des Vereins Interkulturelle Soziale Dienste. Sie vermitteln ehrenamtliche Betreuung für alte Menschen und bieten Beratung an. Auch eine Zahnärztin hat in den Räumen von Ariana ihre Praxis. Außerdem gibt es einen Frisör- und Kosmetiksalon.

Abdullah Ahrari und seine Frau Fahima kommen selbst aus Afghanistan. Vor 27 Jahren flüchtete Ahrari vor den Sowjets. Damals hatte er gerade sein Pharmazie-Studium beendet. In den USA lernte er seine Frau kennen. Sie kam mit nach Deutschland, wo er als Pflegedienstleiter arbeitete. Am Anfang, sagt sie, habe sie sich in Deutschland einsam gefühlt. Inzwischen arbeitet sie in der Tagespflege mit und verwaltet den Lebensmittel-Einkauf. Die beiden haben drei Kinder, die fließend deutsch sprechen, aber auch Farsi lernen.

Morgens bekommen bei Ariana alle Tagesgäste Frühstück, mittags gibt es ein orientalisches Menü. Heute stehen panierter Fisch, Reis und afghanischer Kartoffelsalat auf der Speisekarte. Die weiblichen Gäste sind an zwei Tischen unter sich. Dichter Ahmad Shah Sadozai und seine Freunde sitzen an einem dritten Tisch. Sadozai erzählt, dass er lange als Buchhalter und Großhändler in Afghanistan gelebt habe und dass seine Frau vor 23 Jahren bei einem Bombardement durch die sowjetischen Besatzungstruppen getötet wurde. Später sei er verfolgt worden, weil er Gedichte gegen die Machthaber geschrieben habe. Vor 17 Jahren ist er nach Deutschland geflüchtet.

Der Eventmanager liest

Am Tisch des Dichters sitzt auch Seyed Hossein Hashemol Hosseini. Der 80 Jahre alte Iraner war früher Teppich-Großhändler. Er lebt schon seit 45 Jahren in Deutschland. Er wollte, wie er sagt, „seine Kinder in Deutschland aufwachsen lassen“. Seitdem seine Frau vor einem Jahr starb, ist er alleine. Deshalb geht er montags und mittwochs zur Tagespflege: „Es tut gut, hierher zu kommen“, sagt er.

Nach dem Essen werden Liebesgeschichten in persischer Sprache vorgelesen. Die ZuhörerInnen haben es sich in ihren Sesseln gemütlich gemacht. Sie hängen an den Lippen des Vorlesers, während der hin- und hergeht und dramatische Gesten macht. An den aufregenden Stellen wird er laut, an den romantischen leise. Als die Geschichte zu Ende ist, macht ein Seufzen die Runde, die Damen applaudieren dem Vorleser, der Mohammad Ebrahim Hedjasi heißt und bei Ariana als „Eventmanager“ angestellt ist. Er liest nicht nur vor, sondern lädt auch Dichter ein und verwaltet die mit 3.000 Büchern auf Farsi, Türkisch und Deutsch gut bestückte Bibliothek.

Amiri Hewa fährt an zwei Tagen in der Woche mit dem Bus und der U-Bahn aus dem Hamburger Vorort Schnelsen zu Ariana. Die 68-Jährige ist als Einzige hier schwarz gekleidet. Vor zehn Jahren sei sie aus Afghanistan geflohen, berichtet sie. Ihr Mann und ihr Sohn seien im Krieg gestorben. Zu Hause halte sie es kaum aus, weil ihr Nachbar immer viel Lärm mache. In der Tagespflege genießt sie die Gespräche mit ihren Freundinnen. Und sie übt, gemeinsam mit den Pflegerinnen, für ihren Deutschkurs.

Adile Ikis kommt gerade aus dem Badezimmer und setzt sich in einen der Massagesessel. Die bald 80 Jahre alte Türkin ist froh, dass ihr eine Pflegeschwester beim Baden hilft. Sie ist 1968 nach Deutschland gekommen. „Als junge, hübsche Frau habe ich in der Bundesbahnwäscherei gearbeitet“, sagt sie. Heute lebt sei alleine in einem Seniorenheim, ihr Mann ist 1981 in die Türkei zurückgegangen. Adile Ikis spricht fließend Deutsch: „Das habe ich mir selbst beigebracht. Jeden Tag vier neue Wörter.“ Ihre Freundin Meliha Cakal lebt ebenfalls schon lange in Deutschland. Sie braucht Krücken, um gehen zu können. „Ich habe jeden Tag acht Stunden lang Turnhallen sauber gemacht“, sagt sie. Jetzt habe sie Probleme mit dem Rücken, der Hüfte und den Knien.

Auf einem großen LCD-Fernseher läuft ein Film mit Landschaftsbildern aus Afghanistan, dazu ertönt Musik. Eine zierliche Frau in Hosen beginnt zögerlich vor dem Fernseher zu tanzen. Als die anderen zu klatschen beginnen, wird sie mutiger und schwenkt ihren Gehstock. Die Tänzerin, Ienale Shahin, ist über 80 Jahre alt. Sie sagt: „Wenn ich hierher komme, vergesse ich meine Traurigkeit.“

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