: Mehr Geld wagen
Die große Koalition verpfuscht die dringend nötige Gesundheitsreform. Bald schon können sich die Ärmeren keine menschenwürdige medizinische Versorgung mehr leisten
Wenn es um die Reform des Gesundheitssystems geht, wird meist nur über sinkende Lohnnebenkosten und eine geringere Belastung der Unternehmen diskutiert. Auf Antworten zu den wichtigsten gesundheitspolitischen Fragen wird man auch bei der Regierungsklausur in Genshagen vergebens warten.
Doch: Wie gewährleisten wir bei steigenden Ausgaben faire Gesundheitschancen für alle? Wie kann die Abhängigkeit des Gesundheitssystems von der Lage auf dem Arbeitsmarkt verringert werden? Und wie wird das demografische Problem der Gesundheitsversorgung angegangen?
Klar ist: Der medizinische Fortschritt, die schlechte Gesundheit sozial Benachteiligter und die demografische Alterung führen künftig zu höheren Gesundheitskosten. Deshalb müsste eine Reform dafür sorgen, dass die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung mehr Geld einnimmt. Um das zu erreichen, kommt man nicht um eine stärkere Steuerfinanzierung und die Einbeziehung privat Versicherter herum. Nur so werden alle beteiligt am Ausgleich zwischen Reichen und Armen, Kranken und Gesunden, Jungen und Alten, Kinderlosen und Kinderreichen. Ohne Mehreinnahmen kann die gesetzliche Krankenversicherung schon in wenigen Jahren selbst ein gesundheitliches Existenzminimum für alle nicht mehr gewährleisten.
Doch die große Koalition wendet sich bislang strikt gegen eine Steuerfinanzierung. Nun erwägt man immerhin, die Kindermitversicherung teilweise über Steuern zu finanzieren. Doch dies erhöht nicht die Einnahmen der Kassen. Gleichzeitig rückt die SPD von der Bürgerversicherung ab, und die CDU ist allenfalls zu symbolischen Änderungen an der überkommenen Trennung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung bereit.
Die Mehrkosten der gesellschaftlichen Alterung und des medizinischen Fortschritts bleiben ausgeblendet. Zwar lässt sich mit einigen Innovationen Geld sparen – so bei Herzinfarktpatienten, bei denen dank neuer Verfahren aufwändige Operationen vermeidbar sind. Oft aber führen Innovationen zu Kostensteigerungen: Minimalinvasive Chirurgie und Diagnostik, Kleinstmaschinen oder bildgebende Verfahren verbessern die Versorgung, verteuern die Medizin aber ebenso wie neue patentgeschützte Medikamente oder gentechnisch auf ein individuelles Krankheitsbild zugeschnittene Arzneien.
Trifft zudem nur ein Bruchteil der Heilsversprechen zu, die die Entwicklung künstlicher Prothesen und den Boom der Transplantations-, Gen- und Stammzellenmedizin begleiten, so werden sich die Ausgaben hier ebenfalls deutlich erhöhen.
Auch eine höhere Lebenserwartung bedeutet nicht zwangsläufig höhere Krankheitskosten, weil sich die Gesundheitsaufwendungen überwiegend in den letzten Lebensjahren konzentrieren, unabhängig vom erreichten Alter. Als Folge sozialer Spaltungen nehmen aber gesundheitliche Ungleichheiten zu. Bewegungsarmut, Übergewicht, psychische Probleme aufgrund sozialer Randständigkeit oder früher Drogenkonsum – das sind die heutigen Lebensbedingungen, unter denen viele Kinder in der Unterschicht aufwachsen. Das Ergebnis: Ihre Lebenserwartung wird im Durchschnitt nicht die Lebenserwartung der heute 40- bis 60-Jährigen übertreffen. Auf den ersten Blick entschärft diese Tatsache – zynisch formuliert – die demografischen Probleme der Gesundheitsversorgung. Tatsächlich erhöht sie den Aufwand, weil die geringere Lebenserwartung in den unteren Sozialschichten mit einem langjährigen Siechtum sowie kostenintensiver Behandlung und Pflege einhergeht.
Angesichts dieses Szenarios stoßen die bisher angewendeten Strategien der Kostenbegrenzung an Grenzen: Unter dem Motto „mehr Eigenverantwortung“ und „mehr Freiheit“ sollen Zahlungsfähige mehr Geld ins Gesundheitswesen spülen, um Umsatzsteigerungen von Pharmaindustrie und Medizintechnik zu ermöglichen, ohne dass die Kassenbeiträge steigen. Praxisgebühr, Zuzahlungen der Patienten, Leistungskürzungen und Arbeitnehmersonderbeiträge bilden Schritte in diese Richtung. Doch die Teilprivatisierung der Medizin ist problematisch: Ärmere Bevölkerungsgruppen unterliegen besonders hohen Gesundheitsrisiken, können aber die notwendige Medizin und Pflege nicht aus eigenen Mitteln zahlen.
Deshalb setzten einige Vorschläge parallel auf Kosteneffektivität, indem sie Prinzipien industrieller Massenproduktion anwenden: Evidenzbasierte Medizin, Disease-Management-Programme und Behandlungsleitlinien zerlegen das ärztliche Tun in Einzelkomponenten, die analog industrieller Fertigung statistisch erfasst, elektronisch dokumentiert und durch Dritte überprüft werden. Dies soll den medizinischen Nutzen erhöhen. Doch die Grenzen dieses Ansatzes zeigen sich in überbordender Bürokratie, übermüdeten Ärzten und der Mangelversorgung jener Kranken, die eigentlich ganz individuell behandelt werden müssten.
Es reicht einfach nicht, dass die Krankenkassen Geld effektiver ausgeben. Sie brauchen höhere Einnahmen, um all das zu leisten, das künftig zur Sicherung des medizinischen Existenzminimums erforderlich ist. Die im Grundgesetz garantierte Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet schließlich den Staat zur Sicherung der Mindestvoraussetzungen menschenwürdigen Daseins. Das schließt die Gewährung eines medizinischen Existenzminimums ein. Noch werden etwa bei Nichtkrankenversicherten die Gesundheitsausgaben im gleichen Umfang wie bei Versicherten von den Krankenkassen abgewickelt. Die Sozialhilfeträger stehen für die Kosten ein.
Was aber ist, wenn die Leistungen der Kassen nicht mehr alles abdecken, was zum medizinischen Existenzminimum gehört? Dann steht erstens die gesetzliche Krankenversicherung vor einem Legitimationsproblem: Wie sind Versicherungs- und Beitragspflicht noch zu rechtfertigen, wenn die Sozialhilfe umfangreichere und bessere Leistungen als die gesetzliche Krankenversicherung bietet?
Zweitens dürfte sich dann das gesundheitliche Existenzminimum nicht länger nach dem Stand der Medizin definieren, sondern an den Finanzen der Krankenkassen orientieren.
Ergebnis wäre eine Mehrklassenmedizin, bei der formal zwar allen eine Grundversorgung zugesichert bliebe, medizinisch wünschenswerte Maßnahmen, die eine höhere Wirksamkeit oder geringere Nebenwirkungen besitzen, jedoch an eine private Zuzahlung gebunden wären.
Nur mit einer privaten Zusatzversicherung oder gefülltem Portemonnaie würden etwa Tumorpatienten neue, besonders teure, aber nebenwirkungsarme Arzneien gegen Pilzerkrankungen erhalten. Ärmere Patienten würden mit billigeren, aber die Nieren schädigenden Medikamenten abgespeist. So würde man sie vom medizinischen Fortschritt ausschließen.
HARRY KUNZ
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