IMMER BEREIT: Wenn meine Osteopathin von ostdeutschen Befindlichkeiten erzählt
VON LEA STREISAND
Neulich wurde ich gefragt, wie sich das anfühlt, dieser Berlin-Hype, wenn man herkommt, wo alle hinwollen. Was soll man da sagen? Dass Berlin geil ist, war mir schon immer klar. Ich meine, ich habe hier in den Neunzigern pubertiert. Habe Partys an Orten gefeiert, wo nie ein Mensch zuvor gewesen ist. Dagegen ist alles, was heute abgeht, Kindergeburtstag!
Als Kind wusste ich nicht mal, dass es andere Städte gibt in der DDR. Wenn wir im Urlaub an einer Hochhaussiedlung vorbeifuhren, dachte ich, die Ferien seien zu Ende. Ich kannte außer Berlin nur Dörfer. Und die Ostsee.
Katrin kommt aus einem Dorf in Südbrandenburg. „93 Einwohner, Tendenz sinkend“, sagt sie. „Gleich als ich 18 war, bin ich da weg. ‚Ob ich hier weiterlebe oder gar nicht mehr lebe, ist eigentlich auch egal‘, hab ich gedacht.“
Katrin ist meine Osteopathin. Immer montags bohrt sie ihre Finger in meinen Rücken an den Stellen, wo es am meisten wehtut. Mister Spocks Schultergriff muss sich so anfühlen, kurz bevor die Ohnmacht kommt.
Als ich 16-jährig auf dem Kollwitzplatz saß und Woodstock spielte, waren Katrins Eltern längst arbeitslos. Die Fabrik, die das Dorf ernährt hatte, war abgewickelt. Katrins ehemalige Schule war mangels Kindern geschlossen und als Ausländerheim vermietet.
„Vermietet?“, frage ich und drehe mich halb zu Katrin um. Das hätte ich nicht tun sollen. Eine Schmerzwelle überrollt mich vom linken großen Zeh bis in die Großhirnrinde. „Hat ja auch keiner gesagt, dass de dich umdrehen sollst“, sagt Katrin, als mein Schrei verklungen ist.
Physiotherapeuten, denke ich, so sind sie. Sehen aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben, so braun gebrannt und unterernährt von ihren Grünkernbuletten, mit ihren Baumwollhosen und den ungeschminkt freundlichen Gesichtern. Dabei können wir eigentlich alle nur hoffen, dass nicht eines Tages mal ein Physiotherapeut kommt, der sich seiner Macht bewusst ist. Ich meine, Sektengurus können vielleicht Gedanken manipulieren, Filmproduzenten verfügen über unsere Gefühle und die Medien über unsere Meinung. Aber Physiotherapeuten, die kennen die Triggerpunkte! Die haben den Schmerz im Griff. Darum sollten wir uns Sorgen machen. Aua!
„Klar mussten die Leute Miete zahlen“, sagt Katrin. „Die haben zu fünfzehnt in einem Raum wie dem hier gewohnt, und die Gemeinde hat noch dran verdient.“ Ich gucke mich um. Der Behandlungsraum hat 20 Quadratmeter, hohe Decken, Stuck, Pankower Gründerzeit.
Katrin hat sich mittlerweile zum Genick hochgearbeitet. „Das Problem war“, sagt sie, „dass niemand die Leute auf diese Menschen vorbereitet hatte, die anders aussahen und anders sprachen. Die hatten gerade mal mitbekommen, dass die Mauer weg war, da waren auch schon die Fabriken zu, und dann kamen die ganzen – wie sagt man denn? … Sinti und Roma?“ „Ja“, sage ich und halte die Luft an, „glaub schon.“
„Die wurden da einfach ausgeladen zwischen den arbeitslosen Brandenburgern. Ohne Arbeitserlaubnis. Die sind nur rumgelaufen und haben gefragt, ob sie Sachen mitnehmen können, und Leute wie meine Eltern bekamen es mit der Angst. Meine Eltern haben sowieso vor allem Angst. Die wollten die D-Mark und verreisen, aber sie wollten nicht die fremden Leute bei sich im Vorgarten haben.“
„Bin ich froh, dass ich da weg bin!“, sagt Katrin zu sich selbst. Zu mir sagt sie: „Fertig!“ Ich atme aus und muss daran denken, was meine Mutter zu mir gesagt hat, als ich mal für eine Weile aus Berlin weggegangen bin: „Falls du schwanger wirst, Kind“, sagte sie, „komm nach Hause! Soll schließlich ‚Berlin‘ auf der Geburtsurkunde meiner Enkel draufstehen.“
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