: Der Graf geht täglich konditern
KUCHEN In Berlin entwickelt sich nicht nur eine ans Wienerische angelehnte Kaffeehauskultur. Auch aus dem Kibbuz kommen Impulse, mit französischer Note
■ Mr. Minsch: Yorckstraße 15, Kreuzberg, Mi–So und Feiertage, 12–18.30 Uhr, Tel. 284 508 94
■ Café Kredenz: Kantstr. 81,
Charlottenburg, S Charlottenburg, Mo-Sa 11–19 Uhr, So 12–18 Uhr, Tel. 32 70 42 95,
■ Koriat Kuchenmanufaktur: Pannierstr. 29, Neukölln, U Hermannplatz, tägl. 9–17.30 Uhr, Tel. 28 87 91 79, www.koriat.de
■ Frau Behrens Torten: Wilmersdorfer Str. 96–97, U Adenauerplatz, Mo–So 10–19 Uhr, Tel. 88 91 28 65, www.gugelhupf-berlin.com
■ Weichhardt Brot: Mehlitzstr. 7, Wilmersdorf, U Blissestraße, Di–Fr 7.30–18.30 Uhr, Tel. 8 73 80 99, www.weichardt.de
■ Victoria: Auguststr. 74, Mitte, S Oranienburger Straße, Di–So 11–19 Uhr, Tel. 46 99 82 55, www.victoria-berlin.com
■ Franz-Karl: Bötzowstr. 15, Prenzlauer Berg, Mi–So 12–18.30 Uhr, Tel. 68 07 37 03, www.kuchenkultur-franz-karl.de (mp)
VON MICHAEL PÖPPL
Vor der kleinen Konditorei Mr. Minsch in der Yorkstraße bilden sich öfter mal Schlangen. Besitzer Andreas Minsch verziert seine begehrten Süßigkeiten auf Wunsch auch mal mit Totenköpfen, riesige Käsekuchenstücke für 3 Euro werden auf bunten Wandtellern serviert. Wegen der legendären Zimtschnecken kommen am Sonntag Kunden aus der ganzen Stadt. Von Mr. Minsch und seinen Kultkuchen schwärmt auch der Künstler Lo Graf von Blickensdorf, der sich in seinem Internet-Blog blaues-blut.blogspot.com unter anderem auch mit der Kultivierung des Tortenessens beschäftigt: „Man zieht sich schön an, geht ins Kaffeehaus, liest Zeitung oder flirtet mit der Liebsten“, sagt der Graf. Fast täglich geht er „konditern“, wenn es die gräflichen Verpflichtungen zulassen. Vor dem Verzehr fotografiert er das edle Stück per Handy und stellt es ins Internet. Schon wenige Minuten später hat er Reaktionen seiner Facebook-Fans, von neugierigen Nachfragen bis zu einem schwer zu missdeutenden „Neid!“
Regelmäßig bloggt der „Kuchengraf“ auch aus einem kleinen Charlottenburger Café am Amtsgerichtsplatz. „Kredenz“ heißt es, benannt nach dem antiken Möbelstück, das hinter der Kuchenvitrine steht. Schmandkaramelltorte oder Mohnkuchen werden nach polnischen Rezepten gebacken und sind aufs Schönste butterlastig, so als hätte Großmutter die Finger an der Rührschüssel gehabt. Viele der besten Hauptstadtbäckereien sind, so wie das Café Kredenz, von den Backkünsten und Rezepten der zahlreichen Zugezogenen inspiriert.
Bäcker Aviv Koriat ist zum Beispiel in einem israelischen Kibbuz aufgewachsen. Die kulinarischen Einflüsse der jüdischen Siedler, die ihre Wurzeln in der ganzen Welt haben, beeinflussen seine Rezepte. In seiner kleinen Neuköllner Bäckerei findet man genialen österreichischen Apfelkuchen ebenso wie französische Haselnussmousse-Tarte oder orientalischen Orangenkuchen. Das kommt gut an bei den jungen Neuköllnern. Die Hocker am Schaufenster sind besetzt, die Straße vor dem kleinen Laden öfter mal mit schicken Kinderwagen zugeparkt.
Victoria Fernandéz stammt aus Galizien. Als sie mit dem Backen für ein befreundetes Bistro begann, bekam die Anfängerin Rezepte und Hilfe von der deutschen Großmutter ihrer Tochter. 2008 nannte sie ihr zu Ehren den ersten Laden in Friedenau Frau Behrens Torten. Das Konzept ist schlicht: „Gute und frische Zutaten, keine Treibmittel und viel Liebe“, inzwischen beliefert Fernandéz nicht nur Cafés in der ganzen Stadt, sondern betreibt auch ihr eigenes Kaffeehaus nahe dem Adenauerplatz. In der offenen Backstube werkeln dort täglich vier Bäcker an süßen Kunstwerken, die Entscheidung fällt schwer: Blaubeer-Mascarpone-Torte, gedeckter Apfelkuchen, Himbeerschnitten oder Zitronentarte?
Wer es ganz biologisch mag, findet in den vier Filialen der Bäckerei Weichhardt wirklich feinen Nuss-Kirsch-Kuchen in Demeterqualität, dazu herzhaften Käsekuchen und die beliebte spanische Vanilletorte, die alle ohne irgendwelche Backhilfsmittel zubereitet werden. Viele der Kunden besuchen auch die Marktstände am Kollwitzplatz am Donnerstag oder am Wochenende in der Domäne Dahlem, um sich fürs nachmittägliche Kaffeetrinken mit Plunderstücken und Linzer Törtchen zu versorgen.
Die Wiener Tortenkunst war Vorbild für die aus Zagreb und Wien stammende Künstlerin Nika Radić, die das Victoria in der Auguststraße betreibt, zusammen mit einem befreundeten Diplomaten und ihrer Mutter, die früher als Architektin arbeitete. In Berlin angekommen, merkte sie, dass sie in Deutschland am meisten gute Kuchen vermisste.
In der von der Frau Mama regierten Backstube entstehen nun fast täglich fluffige Erdbeertarteletts, fruchtiger Himbeerkuchen, würziger Mohnkuchen nach Wiener Rezept und weitere Köstlichkeiten, die man nicht nur in Berlin-Mitte lange suchen muss. Die Obstkuchen und -torten wechseln saisonal, je nachdem, was der Markt gerade hergibt, die Preise liegen bei 2,80 bis 3,50 Euro pro Stück.
KÜNSTLER LO GRAF VON BLICKENSDORF
Immer im Angebot sind die dunkle Victoriatorte, eine Pralinenkomposition mit einer Zitronen-Weißwein-Sauce, und die weiße Victoriatorte mit Orangencreme auf Musselinbiskuit und flambiertem Baiser, ein Kuss im wahrsten Sinn des Wortes.
Ein weiterer Botschafter der österreichischen Backkunst ist Franz-Karl Kaufmann, der als Chefpatissier in mehreren Hotels arbeitete und nun eine eigene Konditorei im Bötzowviertel eröffnet hat. An den Wänden werden österreichische Backbegriffe wie „Germ“, „Powidl“ oder „Riebisel“ erkärt, in der Kuchenvitrine liegen Klassiker wie Sacher- oder Linzertorte, Guglhupf und Apfelstrudel neben saisonalem Gebäck wie der Rhabarber-Mandel-Torte oder Dauerbrennern wie dem luftigen Bienenstich, der schnell mal ausverkauft ist. 2,80 bis 3 Euro kostet der Eintritt ins Wiener Tortenparadies, das man mit nach Hause oder nach draußen in den benachbarten Volkspark mitnehmen kann.
Und das Franz-Karl liefert sogar einen Grund, sich wieder auf die kalte Jahreszeit zu freuen: Nur dann gibt es echte Buchteln. Was das ist, können die Interessierten an der Wand der Konditorei nachlesen.
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