: L’Allemagne paiera!
EUROPA Der lange Lauf der Geschichte – folgt mit dem Euro auch die Durchsetzung des deutschen Tugendkanons? Ja, aber nicht zum Nulltarif
VON DAN DINER
Deutschland wird (dafür) bezahlen! Unter diesem Slogan war der Bloc national unter Führung Clemenceaus bei den Wahlen zur französischen Nationalversammlung vom September 1919 angetreten. Die Wahlen standen ganz im Zeichen nationaler Rekonstruktion nach dem verheerenden Großen Krieg und der von ihm verursachten Kriegsschäden – auch der im Zuge des deutschen Abzugs mutwilligen Zerstörung französischer wie belgischer Kohlengruben.
Als Deutschland seine in Versailles verfügten Leistungen nur zögerlich erfüllte, exekutierte der damalige französische Ministerpräsident Raymond Poincaré seine „Politik der produktiven Pfänder“, indem er 1923 Truppen ins Ruhrgebiet einrücken ließ, die mit aufgepflanzten Bajonetten Kohle auf Züge verluden, um sie nach Frankreich zu verfrachten.
Die lautere Absicht
Solche und ähnliche Bilder sollten nach zwei Weltkriegen der Vergangenheit angehören. Das jedenfalls war die lautere Absicht europäischer Politiker die sich unmittelbar nach der Katastrophe dem ehernen Ziel der europäischen Einigung verschrieben hatten. Kernbestand der europäischen Einigung war der deutsch-französische Ausgleich – oder genauer und als erster Schritt: die Neutralisierung des deutschen Rüstungspotenzials an Rhein und Ruhr. Zwar hatte die im Jahre 1951/52 aus der Taufe gehobene Montanunion, also die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch die suprastaatliche wirtschaftliche Integration der jeweils nationalen Potenziale der Schwerindustrie zum Ziel und bediente sich dabei einer ökonomischen Sprache. Ihr eigentlicher Zweck indes war hochpolitisch gewesen.
Politisch war auch die parallel zur Montanunion angestoßene Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft – ein Vorhaben, das gleichwohl 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Mit der Aufnahme der Bundesrepublik in die Nato 1955 entpolitisierte sich das europäische Unternehmen zusehends – um 1957 mit den Römischen Verträgen sich endgültig als Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu konstituieren.
Spätestens von da an kommunizierte das europäische Einigungswerk vornehmlich in Semantiken des Ökonomischen. Zudem unterstand im Kalten Krieg die große Politik ohnehin der Verfügungsgewalt der Schaltstellen der Blöcke in Ost und West. Die stille historische Dimension der europäischen Einigung die Neutralisierung der „deutschen Frage“, fand sich letztendlich in ebenjener Konstellation aufgehoben.
Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Vereinigung Deutschlands schien die deutsche Frage in Europa aufs Neue aufgeworfen. Nicht, dass die Vereinigung nationalstaatlich vermachtet, gar militärisch irrlichternd ein mühsam austariertes europäisches Gleichgewicht umgestoßen hätte. Wer eine bloße Wiederholung des Vergangenen vermutet, ja eine Rückkehr „der Geschichte“ befürchtet hatte, fand sich alsbald positiv belehrt. Das Gemeinwesen der Deutschen erweist sich, und gemessen an seinem wenig anheimelnden historischen Profil, zunehmend als eine postdeutsche Republik.
Das Deutschland von heute ist kein hegemonialer Machtstaat in der Mitte Europas. Gleichwohl nehmen die finanzpolitisch codierten deutschen Tugenden des Wirtschaftens und Haushaltens in den Ländern der Eurozone so etwas wie eine Prärogative für sich in Anspruch. Dass es so weit kommen konnte, ist nicht zuletzt Folge einer den Umständen der Vereinigung geschuldeten Paradoxie.
Damals suchten machtpolitisch traditionell denkende europäische Politiker das sich vereinigende Deutschland mittels einer übereilt eingeführten gemeinsamen europäischen Währung einzuhegen. Nachdem das durch Vereinigungskosten wirtschaftlich gestresste Deutschland sich zusehends erholte und durch eine ihm alsbald verabreichte soziale Rosskur einen Modernisierungsschub erfuhr, mauserte sich das Land in Folge der aufgebrochenen Schuldenkrise zum Zuchtmeister Europas. Denn mittels der gemeinsamen Währung drängen die historisch gewachsenen institutionellen und habituellen Maßgaben des deutschen Wirtschaftens und Haushaltens darauf, sich zu verallgemeinern – sie europäisieren sich.
Das trojanische Pferd
Die Europäisierung deutscher Sekundärtugenden erschüttert in den Versuchen, der Schuldenkrise Herr zu werden, den Euroraum. Schließlich bedeutet eine gemeinsame Währung so etwas wie ein allen auferlegtes gemeinsames Maß. Und es ist ebendiese Geltung eines gemeinsamen Maßes, welches historisch gewachsene Unterschiede zwischen den Ländern der Eurozone überhaupt erst sichtbar werden lässt.
Auf das Milieu der lebensweltlichen Kulturen Europas übertragen heißt dies, dass das, was ursprünglich in europäischer Reaktion auf die deutsche Vereinigung als Kautel gedacht war, nämlich die beschleunigte Aufgabe der deutschen Währungssouveränität, gleichsam umgekehrt eine Vorherrschaft der „deutschen Tugenden“ des Wirtschaftens und Haushaltens in Europa nach sich zieht. So erweist sich der Euro als trojanisches Pferd einer europäisch gewendeten deutschen Frage – ein Kampf um die in die europäische Währung eingehenden und miteinander konkurrierenden Tugenden; eine Art europäischer Bürgerkrieg.
Die europäische Politik leidet an der Gestaltungsmacht einer teleologisch angelegten Erzählung – sozusagen von der europäischen Idee hin zu ihrer Erfüllung. Dabei ist das Realität gewordene Europa ein Ausbund von Kontingenz. Mehr als die zur Wirklichkeit drängende europäische Idee war der Kalte Krieg ihr eigentliches Gefäß. Er war ihr Struktur und Halt, ebenso wie sein Ende dem zwischenzeitlich erlahmten europäischen Projekt nach 1989/90 neue Lebensgeister einhauchte, damals, als den vormals kommunistischen Staaten eine Modernisierungsperspektive nach Europa hin geboten worden war.
Nach bald 25 Jahren und einer das europäische Projekt in seinen Fundamenten bedrohenden Schuldenkrise wird deutlich, dass Europa – genauer die Eurozone – von einem sich vertiefenden Riss durchzogen wird. Dieser Riss scheidet Europa im Unterschied zur vertikalen politischen Geometrie des Kalten Krieges nicht mehr in Ost und West, sondern horizontal und lebensweltlichen Unterschieden nach in Nord und Süd. Was diese Unterscheidung so nachhaltig erscheinen lässt, ist der Umstand, dass sich dabei tief eingelassene unterschiedliche Traditionen des Wirtschaftens und Haushaltens offenbaren.
Zur Erklärung der sich in Europa massiv öffnenden Schere zwischen Nord und Süd muss nicht gleich auf Max Webers „Protestantische Ethik“ zurückgegriffen werden. Aber dass auf dem Kontinent unterschiedlich gewachsene Traditionen von Staatsbildung und Rechtskultur, unterschiedlichen Graden der Durchsetzung rationaler Verwaltung, der Verteilung von privatem und öffentlichem Reichtum, von unterschiedlicher Qualität des Bildungs- und Ausbildungswesens, dem Zumutungsgrad von Geldentwertung und dem Pegel des Ertragens sozialer Härten ihre Wirkung tun, ist inzwischen in aller Munde.
Und in aller Munde ist die für Deutschland aufgrund seiner Größe, seiner Wirtschaftskraft und seiner Modernität sich ergebende Verantwortung für das europäische Projekt als Ganzes – bis hin zum Betreiben einer Politik, die letztendlich auch auf einen Schuldenschnitt hinauslaufen würde. Dies freilich nicht zum Nulltarif, sondern unter Bedingung einer europäischen Übernahme von auf Zukunft gerichteten Maßnahmen und Maßgaben, die wohl wesentlich auf dem deutschen Tugendkanon des Wirtschaftens und Haushaltens beruhen dürften.
Schon in der Frühphase der deutsch-französischen Bemühungen um einen historischen Ausgleich hat Konrad Adenauer nicht nur selbstironisch bemerkt, dass ein deutscher Kanzler sich vor der Bundesflagge einmal, vor der französischen Trikolore indes gleich dreimal zu verneigen habe. Auf die gegenwärtige und zukünftige Konstellation im gebeutelten Europa übertragen bedeutet dies, den wenig deutschfreundlichen Wahlslogan des Bloc national aus dem Jahre 1919 im Sinne einer höheren deutschen Selbstverpflichtung für das Europa der Zukunft positiv zu wenden: L’Allemagne paiera!
■ Dan Diner, geb. 1946 in München, ist Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie an der Universität Leipzig
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