: Fakten und Fiktionen in God’s own country
REISEREPORTAGE In Geert Maks Buch „Amerika!“ verwebt sich auf wunderbare Weise das Porträt eines blockierten Landes mit der Geschichte eines blockierten Autors
VON EVA BERGER
Der niederländische Publizist Geert Mak ist mit seinen historisch fundierten Reisereportagen auch in Deutschland längst kein Unbekannter mehr. Nach dem Bestseller „In Europa“ (2005) hat er nun den Atlantik überquert und sich auf eine dreimonatige Spurensuche in die USA begeben. Die Gründung der Vereinigten Staaten ist vor allem das historisch einzigartige Experiment eines den Idealen der Gleichheit und Aufklärung verpflichteten Gemeinwesens, dessen Dynamik sich nicht zuletzt aus dem sozialen Mobilitätsversprechen des American Dream speiste. Die Frage, wie es um dieses revolutionäre Projekt heute bestellt ist, bildet den Leitfaden, der Maks Reise vorwärtstreibt. Unter dem Titel „Amerika!“ ist seine Bestandsaufnahme nun bei Siedler auf Deutsch erschienen.
Das Buch besticht durch die Virtuosität und Leidenschaft, mit der der Autor es auf knapp 600 äußerst kurzweiligen Seiten versteht, verschiedene Erzählstränge und -schichten, gegenwartsdiagnostische Beobachtungen, Gespräche und Analysen mit historischen Rekonstruktionen ineinanderzuweben. Seiner Route von Osten nach Norden, nach Westen und Süden folgend, entsteht so mit der Durchmessung des Raumes gleichzeitig eine Archäologie der Entwicklungen, Ideale und Mythen, mit denen das Land groß wurde, nachdem es die Native Americans an die Ränder seines Imperiums getrieben hatte.
Auf dem Beifahrersitz
Mak reist nicht als Erster und 2010 auch nicht als Einziger auf den Spuren des amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck. Der hatte sich 1960 in einem Pick-up-Truck namens Rosinante mit seinem französischen Pudel Charley als Begleiter aufgemacht, um ein Heimatland zu erkunden, das ihm fremd geworden war. Das Buch zur Reise, „Travels with Charley“ (1962), wurde in den USA zum Bestseller und galt lange Zeit als authentisches Psychogramm einer Gesellschaft zwischen Konsumrausch und Kalter-Krieg-Ängsten.
Dass es sich bei Steinbecks Buch jedoch weniger um authentizitätsverhafteten Journalismus handelt, sondern sich dahinter die tragische Geschichte eines an sich selbst scheiternden, Fakten und Fiktionen verwirbelnden Schriftstellers verbirgt, ist nun jedoch eine neue Erkenntnis, die sich für Mak im nachfahrenden Reenactment und Abgleich mit Manuskripten und Briefwechseln nach und nach erhärtet. Wahrscheinlich buchstäblich on Speed hetzte Steinbeck durchs Land und wurde dabei vor allem von der Sehnsucht nach seiner Frau Elaine angetrieben, die den Pudel Charley viel häufiger auf dem Beifahrersitz ersetzte, als es in den „Travels“ erahnbar wird.
Die sensible Analyse dieses Scheiterns zieht sich als Rahmenhandlung durch das Buch Maks, der im Wechsel der Landschaften, Orte, Menschen und Realitäten dieses „Monster-Landes“ (Steinbeck) viele der Leerstellen füllt, die der Amerikaner 1960 links und rechts in der Landschaft liegen ließ. Das Anschwellen der Großstädte, die Suburbanisierungsprozesse im Zuge der Highway-verzweigten Automobilisierung, der Aufstieg der Shopping Malls und das Gefressenwerden der mittelständischen Farmwirtschaft durch das agrarische Großkapital – all diese Entwicklungen, die die 50er und 60er Jahre in den USA kennzeichneten, finden bei Mak genauso Beachtung wie die kulturellen und mentalen Revolutionen und Eigenarten, die das Land bis heute prägen.
Gleichzeitig fällt die Bestandsaufnahme der Gegenwart ernüchternd und bedrohlich aus. Das Amerika der Finanzkrisen-Ära zeigt sich ähnlich blockiert und in Fakten und Fiktionen verstrickt wie Steinbeck vor 50 Jahren. Drei Jahrzehnte Neoliberalismus haben sich dem Land zutiefst eingeschrieben. Flächendeckend verrotten Infrastruktur und öffentliches Gemeinwesen, doch das Steuersenkungsmantra des Neokonservativismus ist dadurch nicht totzukriegen. Und in den vielen Gesprächen, die Mak auf seiner Wegstrecke führte, spiegelt sich vor allem die Härte, die für das Durchschnittsamerika heute damit verbunden ist zu (über)leben. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes glaubt die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr daran, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird.
Nicht nur die fortschreitende Ungleichheit bedroht laut Mak die Zukunftstauglichkeit des Landes. Auch angesichts der Käuflichkeit und des obszönen Einflusses von Geld und Lobbygruppen auf die Politik stellt sich die Frage, ob die amerikanische Demokratie die Grenze ihrer Funktionsfähigkeit nicht längst erreicht hat.
Trotzdem ist „Amerika!“ keine kulturpessimistische Niedergangsgeschichte. Mak setzt auf die progressiven Elemente des Landes, die bewunderungswürdig unkaputtbar an ihrem Engagement am amerikanischen Gründungsideal der Gleichheit festhalten. Auch demografisch erscheinen die USA um einiges zukunftsoffener, weil jünger als Schwester Europa und viele andere Länder. Hinzu kommt die in der DNA Amerikas angelegte Fähigkeit und Bereitschaft, Zuwanderer zu integrieren. Mit den folgenden Migrantengenerationen, so Maks Hoffnung, könnte sich auch ein fundamentaler politischer und kultureller Wertewandel vollziehen, der aus der gegenwärtigen Blockade möglicherweise herausführt. Hoffen wir, das sich diese vorsichtige Vision nicht als Fiktion entpuppt.
■ Geert Mak: „Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Aus d. Niederl. v. A. Ecke und G. Seferens. Siedler Verlag, München 2013, 624 S., 34,99 Euro
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