: Kleiner Mann ganz groß
ABSCHIED Mit dem Spektakel „Fünf Tage im Juni“ geht am Maxim Gorki Theater die Ära des Intendanten Armin Petras zu Ende
VON ESTHER SLEVOGT
Die Stimmung im Garten des Maxim Gorki Theaters ist lauschig. Mit einem Sommerfest nimmt man Abschied von der Ära Armin Petras. Bierbänke stehen unter alten Bäumen, der Duft von Bockwürsten dringt bis in den Teil des Gartens, wo heute Theater gespielt wird. Zwischen den Bänken steht ein monströser Schreibtisch, an dem eine Frau im schäbigen Retro-Anzug Platz nimmt und mit dröhnender Stimme einen Parteibeschluss vorliest. Darin ist von Erhöhung der Arbeitsnorm die Rede. Auf einem Bühnenpodest drucken junge Leute FDJ- und Defa-Logos auf bunte T-Shirts. In die Open-Air-Stimmung dröhnt unvermittelt grölendes Gelächter: „Prost!“ brüllt ein Sitzender und hebt eine Bratwurst hoch. „Was man im Bauche hat, kann einem keiner wegnehmen.“ „Ja“, erwidert ein anderer, „Mensch ist Mensch und Bauch ist Bauch, da kann niemand ran mit irgendwelchen Normerhöhungen.“
Und dann sind wir drin im zweiten Kapitel von Stefan Heyms Roman „5 Tage im Juni“, der auch dem Gorki-Abschlussspektakel die Überschrift lieh, wo Regisseure und Formate, die die Petras-Jahre prägten, noch einmal in Kurzform über die Bühnen des Hauses tobten. In seinem Roman erzählt Heym die Geschichte des 17. Juni 1953 von unten: anhand einer Gruppe von Arbeitern eines Betriebes, in den fünf Tagen bis zum Aufstand. Heym montiert in seine Szenen immer wieder dokumentarisches Material, unter anderem Reden des damaligen Rias-Chefredakteurs Egon Bahr. Rias, das hieß ausgeschrieben „Radio im amerikanischen Sektor“. Bahr, inzwischen 91 Jahre alt, hat erst kürzlich am Rande einer Veranstaltung zum 17. Juni von Heyms unmittelbar unter dem Eindruck der Ereignisse geschriebenen Roman als einem „schrecklichen Buch“ gesprochen. In der DDR erscheinen konnte das beiden Systemen unangenehme Buch trotzdem erst 1989.
Leiden des kleinen Mannes
Im Garten des Maxim Gorki Theaters werden wir Zeugen, wie die Situation langsam eskaliert. Der Ärger der Genossen über ihre politische Führung steigt ebenso wie ihre Enttäuschung darüber, dass das alles nichts ist mit dem versprochenen Arbeiterstaat, in den man so viel Hoffnung setzte. Und man als „kleiner Mann“ wieder mal bloß der Unterdrückte und Gelackmeierte ist.
Es sind neben der tollen Ursula Werner neun überwiegend sehr junge Akteure aus dem Ensemble, die sich die Rollen der Arbeiter teilen, die auf der Baustelle der Stalinallee den Aufruhr beginnen. Ein grauer Kittel wandert von Spieler zu Spieler. Jeweils ein anderer erzählt die Geschichte des erwachenden Gewerkschafters Witte und des alten Arbeiters Kallmann, der sich durch die Systeme von Weimar bis Ostberlin lavierte und nun nicht mehr kann und will. Im Hintergrund ein gemalter Bühnenprospekt der geplanten Luxusbauten von Mediaspree, wo sich wieder einmal der politische Wille einer Zeit in Bauten gegen die Interessen der „kleinen“ Leute manifestieren wird.
An fünf Plätzen hat der Regisseur Jan Neumann an den fünf Tagen, die das Abschiedsspektakel dauert, Szenen aus Heyms berühmtem Roman inszeniert: in der Theaterkantine, im Garten, auf dem Theaterparkplatz, im Deutschen Historischen Museum, wo der Tag ebenfalls gedächtniskulturell entsprechend inszeniert ist. Und zum Abschluss als Stadtspaziergang zu Originalschauplätzen. In Neumanns Romanskizzen tritt er noch einmal gut modelliert hervor, der kleine Mensch, immer wieder fortgerissen von den Kräften der Geschichte und zerdrückt von Machtinteressen, gegen die er vergeblich aufzustehen versucht: wie am 17. Juni 1953.
Dieser kleine Mensch und sein Blick auf die Geschichte waren Held und Kraftzentrum der Petras-Jahre am Gorki Theater. Sein Utopieanspruch, für den man hier gelegentlich eintrat, als sei er einklagbarbar wie ein Rentenanspruch, überzog auch noch die weniger gelungenenen Produktionen mit einer Art Goldstaub, der von einer besseren Welt herabgefallen zu sein schien. „Wir sind die Guten“, schien mit Wolkenschrift über dem klassizistischen Tempel am Kastanienwäldchen geschrieben zu stehen. Jetzt werden andere Gute kommen.
In Jan Neumanns Adaption des Stefan-Heym-Romans ist inzwischen der Aufstand ausgebrochen. Energisch lassen die Akteure rote Luftballons platzen, die in einem Riesenkorb am anderen Ende der Szene stehen. Es knallt, als ob wirklich Schüsse fielen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen