piwik no script img

Die Zukunft ist ein Projekt von gestern

SEHNSUCHTSORTE Der Schriftsteller William Gibson, Visionär der virtuellen Realität, legt einen tollen Essayband vor: „Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack“ versammelt luzide Zeitdiagnosen aus vier Jahrzehnten

„Der Endpunkt der menschlichen Kultur ist womöglich ein einzelner Moment, der ewig währt, ein endloses digitales Jetzt“

WILLIAM GIBSON

VON FRANK SCHÄFER

Science-Fiction-Autoren, zumal die von dystopischen Gesellschaftsentwürfen, bespiegeln in erster Linie ihre unmittelbare Gegenwart, wenn auch genregemäß verzerrt. Das ist eine dieser Binsen, die jeder Pennäler bei der obligatorischen Orwell-Lektüre hinter die Löffel geschrieben bekommt. Für William Gibson, den literarischen Visionär, der in der „Neuromancer“-Trilogie den „Cyberspace“ mitsamt seinen fundamentalen Auswirkungen vorausgesagt und in der folgenden „Idoru“-Trilogie eine detaillierte Soziologie des „Cyborg“ entworfen hat, ist mittlerweile sogar der Zerrspiegel überflüssig geworden. In seinen letzten drei Romanen gibt er das futuristische Dekor fast ganz auf.

Der jetzt erschienene Essayband „Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack“ verrät, was ihn dazu bewogen hat: „Zukunftsmüdigkeit“. Die Zukunft als Sehnsuchtsort ist ein Projekt von gestern. Denn jetzt, da Gibson und seine Generation „in der Zukunft angekommen sind, entdecken wir, zwangsläufig, dass sie nicht so großartig ist, wie man sie sich vorgestellt hat“.

Außerdem gab es sie auch schon früher, die verstörend polychrome, toxische, irisierend fremdartige Kulisse seiner Romane. In Tokio. Seit seinen „Anfängen als Schriftsteller“ ist ihm dieser Ort „die beste Quelle für Requisiten“ gewesen, mit seinen „willkürlich überlappenden Medien, dem chaotisch konstanten Neonsturm aus Marketinggedöns“. Hier hatte die Gegenwart längst die Zukunft eingeholt. Warum ausgerechnet Tokio? Gibsons Erklärung für das utopische Potenzial Japans ist schlagend.

Nach 200-jähriger Isolation und feudaler „Traumzeit“ wurde das Land 1854 infolge der amerikanischen Kanonenbootdiplomatie in die Moderne gestoßen, mit Hauruck durchindustriealisiert, militärisch und ideologisch aufmunitioniert. „Als Resultat kehrten die Amerikaner zurück und bombardierten Asiens erste Industrienation mit dem Licht von tausend Sonnen.“ Danach wurde die Gesellschaft noch einmal von Grund auf umgestaltet, demokratisiert, ohne aber die alten feudalen Strukturen ganz abschaffen zu können. Eine solche Geschichte macht etwas mit den Menschen, es lehrt sie, Veränderungen auszuhalten, sich mit dem Fremden zu arrangieren. „In einer Welt des permanenten, technikinduzierten Wandels besitzen die Japaner einen entscheidenden Vorteil: Sie haben gelernt, damit zu leben.“

Immer wieder kommt Gibson auf Japan zurück. Wer sein Werk etwas kennt, dem werden die Szenarios und atmosphärischen Skizzen bekannt vorkommen. Aber diese gesammelten Essays und Reportagen aus vier Jahrzehnten sind doch weitaus mehr als Vorstudien oder Fußnoten zu den Romanen und Erzählungen. Es sind luzide Gegenwartsanalysen, uneitel, unakademisch, unsystematisch, assoziativ, aber mit enormer aphoristischer Prägnanz. Und auch Poesie.

In seinem Essay „Glänzende Schlammkugeln“ erzählt er von zwei erstaunlichen Modeerscheinungen des zeitgenössischen Japans. Junge Menschen, vor allem Männer, lassen sich aus der Welt fallen, verbergen sich bisweilen jahrelang in ihren Zimmern, sogar vor ihren engsten Familienangehörigen, in totaler Einsamkeit, ohne dabei psychische Krankheitssymptome wie Agoraphobie oder Depression an den Tag zu legen. Etwa zur gleichen Zeit hört Gibson von den titelgebenden, ursprünglich von Kindern gefertigten glänzenden Schlammkugeln (jap. Hikaru Dorodango), die durch ständiges Rollen in der Hand einen tiefen, an alte Keramik erinnernden Glanz bekommen. Ein enormes Medienecho macht sie zu quasikultischen Objekten. Ein Kulturwissenschaftler sieht in ihnen ein Dingsymbol für die Essenz des Spielens. Collagenartig versammelt Gibson Informationen zu beiden rätselhaften Phänomenen. Aber sie bilden keinen Kontrast, wie man zunächst annimmt, vielmehr erklären sie sich gegenseitig. Die Einsamen „sind ebenfalls mit der Schaffung von Dorodango beschäftigt. Ihr gewähltes Material: das Leben selbst.“

Hier haben wir die idealisierte, auf die Spitze getriebene, die Zen-Version des Nerds, den japanischen Otaku. Für Gibson ist er eine Art Rebell, der sich bewusst fernhält von den Waren- und Informationsströmen, die ihn unablässig umspülen, der mit äußerstem Einsatz sein Steckenpferd reitet, nämlich auf Kosten der Vielfalt des Lebens und seiner sozialen Existenz. Vielleicht gibt es deshalb auch so viele Verkaufsautomaten in Tokio, die für sich „eine geheime Stadt der Einsamkeit“ bilden. Sie ermöglichen es, „tagelang jeden Blickkontakt mit anderen Menschen aus dem Weg zu gehen“. Gibson vermeidet jede Pathologisierung dieses Typus, denn mit einer Soziophobie hat das gar nichts zu tun. Es ist ein Spiel, sie bringen ihr Leben auf Hochglanz.

Ein grandioser Essay. Und Gibson weiß das auch. Im angehängten Kursivtext, der jeden dieser Aufsätze nachträglich noch einmal kommentiert, mit souveräner Selbstironie bewertet und kontextualisiert, wünscht er sich, er „hätte aus diesem Artikel einen Roman gemacht“. Das ist dann aber auch schon das Höchstmaß an Eitelkeit, das er sich in den Kommentaren leistet.

Gibson hat ein Faible für solche Fetischisten. Er ist selbst einer, in gewissen Grenzen. In einem Essay erläutert er seine zeitweilige Obsession für mechanische Uhren, die ihn, den Visionär der virtuellen Realität und gleichzeitigen Internetverächter, mit einiger Verspätung doch noch ins Netz führen. Wenn auch nur zu eBay. In einem anderen Essay nimmt er den Faden noch einmal auf und schildert seine unschuldige eBay-Passion als eine höhere Form, Zeit zu vertrödeln. Und das sei die eigentliche Qualität des Word Wide Web, die es zu bewahren gelte. Aber gerade sie sei in Gefahr. Die Zukunftsforscher hätten zwar einst als Folge der fortschreitenden Technologisierung eine „Freizeitgesellschaft“ prognostiziert, die allerdings sei nie eingetreten. Im Gegenteil. „Während neue Technologien ständig die Lücken im globalen Kommunikationsnetz schließen, bleiben uns immer weniger Entschuldigungen für … Müßiggang.“ Und so eine Entwicklung befürchtete er bereits 1996 auch für das Internet. Vermutlich hatte er recht.

Obwohl die Texte in der Regel Auftragsarbeiten sind und insofern ganz unterschiedliche äußere Anlässe haben, stößt man öfter auf solche thematisch-motivischen Verknüpfungen. Und mitunter wiederholt er auch schon mal einen guten Gedanken. Aber auch diese gelegentlichen Redundanzen nimmt man Gibson nicht übel, umso zerknirschter oder sarkastischer fällt dann eben sein Selbstkommentar aus.

Der Fluss der Zeit

Zumal die Massierung zumeist auch den Grad der Relevanz anzeigt, die manche Ideen in seinem Denken beanspruchen. Mehrfach schreibt er etwa über die stetig wachsende Leistungsfähigkeit unserer „Gedächtnismaschinen“. „Als Spezies war es bis vor Kurzem noch alles andere als selbstverständlich, Tote zu sehen oder ihre Stimmen zu hören. Eine Tatsache, die längst noch nicht ausreichend verstanden wurde.“ Denn was folgt daraus? Immer leistungsfähigere, stärker vernetzte, miteinander verschmelzende Erinnerungsaggregate könnten den Fluss der Zeit zum Stehen bringen, weil sie die Vergangenheit vollständig präsent halten. Man mag in der grassierenden Retromanie ein Indiz sehen, das seine Argumentation stützt. „Der Endpunkt der menschlichen Kultur ist womöglich ein einzelner Moment, der ewig währt, ein endloses digitales Jetzt.“

Ein paar Jahre später spinnt er den Gedanken fort. Diese „Erweiterungen des menschlichen Gehirns“ könnten „den Tod des Individuums und vielleicht sogar das Aussterben der ganzen Spezies überleben“. Unsterblichkeit im Cyberspace. Das war schon die Quintessenz in „Neuromancer“. Am Ende des Tages ist der Science-Fiction-Autor kein Zeitdiagnostiker mehr, sondern ein Gottsucher.

William Gibson: „Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack“. Aus dem Englischen von Sara und Hans Riffel. Tropen, Stuttgart 2013. 252 Seiten, 21,95 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen