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„Was ist mit den Leuten los?“

GESELLSCHAFT Auch die Schizophrenie hat eine Geschichte. Die Historikerin Brigitta Bernet hat untersucht, wann bestimmte Verhaltensweisen als Abweichung markiert werden

Brigitta Bernet

■ ist Historikerin und hat mehrere Projekte zur Sozial- und Wissensgeschichte der Psychiatrie durchgeführt. Sie ist Oberassistentin am Institut für Geschichte der ETH Zürich und Fellow des IGK Re:work an der Humboldt Universität zu Berlin

sonntaz: Frau Bernet, der Terminus „Schizophrenie“ taucht als Diagnose 1908 erstmals auf. Was war mit der Schizophrenie, bevor man sie so nannte?

Brigitta Bernet: Die einen sagen, es habe die Schizophrenie schon immer gegeben, aber sie sei erst vor hundert Jahren entdeckt worden. Andere meinen, die Krankheit sei im 19. Jahrhundert ausgebrochen und habe wie ein Virus um sich gegriffen. Je weiter man sich von der Medizin entfernt und je näher man den Kulturwissenschaften kommt, umso eher spricht man von der Konstruktion der Schizophrenie. Das heißt, man formuliert die Frage umgekehrt: Was war um 1900 mit der Gesellschaft los? Warum war es nötig geworden, bestimmte Verhaltensweisen als pathologische Abweichungen zu markieren?

Spricht man von der „Konstruktion“ von Krankheiten, denkt man sogleich an antipsychiatrische Positionen wie die von Thomas Szasz, der die Schizophrenie in den Sechzigerjahren als „Mythos“ bezeichnet hat.

Die Antipsychiatrie war das Komplement zur biologistischen Psychiatrie, die im Wahnsinn eine kulturunabhängige somatische Krankheit sah und die Schizophrenie auf Hirn, Gene oder Hormone zurückführte. Antipsychiater wie Laing, Cooper oder Szasz vertraten die andere Extremposition: Sie sprachen psychischen Störungen jegliche somatische Komponente ab. In ihren Augen stellen Diagnosen Ausschlusslabels dar, mit deren Hilfe unangepasstes Verhalten pathologisiert und störende Individuen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Angesichts der heute dominierenden Neuropsychiatrie sind diese Ansätze wieder aktuell. Sie veranschaulichen, dass medizinische Krankheitsbilder eine gesellschaftliche Funktion erfüllen.

Warum war die Antipsychiatrie in den Sechziger- und Siebzigerjahren für kritische Intellektuelle so attraktiv und warum ist sie so sang- und klanglos untergegangen?

Das hat mit der Einbindung der Psychiatrie ins staatliche Dispositiv zu tun. Psychiatriekritik war damals gleichbedeutend mit Staatskritik. Bis in die Siebzigerjahre erfolgte die Mehrzahl der Anstaltseinweisungen gegen den Willen der Betroffenen. Beides ist heute anders: Die Anbindung der Psychiatrie an den Staat hat sich im Zuge der Redimensionierungen und Privatisierungen im Gesundheitswesen gelockert. Gleichzeitig hat eine Psychiatrisierung des Alltags stattgefunden. Diese manifestiert sich in der „Drehtürenpsychiatrie“, dem Ausbau dezentraler und ambulanter Betreuung, dem boomenden Absatz von Psychopharmaka. Sie zeigt sich aber auch in der höheren sozialen Akzeptanz psychiatrischer Deutungen und der gestiegenen Bereitschaft, die eigenen Probleme als individuelle Defekte wahrzunehmen und eine psychiatrische Behandlung in Anspruch zu nehmen.

Hat die Therapeutisierung der Gesellschaft also zu einer Entpolitisierung geführt?

Ja. Umso wichtiger ist es, sich die Herkunft und Funktionsweise psychiatrischer Deutungs- und Behandlungsmuster bewusst zu machen. In meinem Buch habe ich das am Beispiel der Schizophrenie versucht.

Krankheitsbilder sind also Ausdruck des Zeitgeists. Das Zeitalter der Nervosität und das der Schizophrenie sind vorüber. In welchem Zeitalter leben wir jetzt?

Heute ist die Schizophrenie von der Depression abgelöst worden. Auch hier muss man die Fragen in beide Richtungen stellen. Nicht nur: Was ist mit den Leuten los? Warum leiden immer mehr Menschen an Burn-out, excessive grieving oder Stress? Sondern auch: Was ist mit der Gesellschaft los? Warum werden Verhaltensweisen, die vor zehn Jahren im Bereich des Normalen lagen, als psychische Störungen markiert?

INTERVIEW PETER SCHNEIDER

Brigitta Bernet: „Schizophrenie. Entstehung und Entwicklung eines psychiatrischen Krankheitsbilds um 1900“, Chronos Verlag, Zürich 2013. 390 Seiten, 39,50 Euro

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