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Darf man öffentlich knutschen?JA

LEIDENSCHAFT Zartgehaucht bis engumschlungen, im Zug, im Café, im Wartezimmer, feucht und eifrig. Muss das sein? Am Samstag ist Internationaler Kusstag

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Dorothee Bär, 35, ist familienpolitische Sprecherin der Union im Bundestag

Küssen ist wichtig und vor allem gesund, denn: Man verbraucht Kalorien, baut Stress ab und beugt Falten vor. Wo und vor allem mit welcher Intensität geküsst wird, ist so individuell wie jeder Mensch und jeder Kuss. Das muss situativ entschieden werden. Für mich persönlich kommt es im öffentlichen Raum auf die Heftigkeit an. Ein Kuss kann mitunter sehr intim sein. Ich kann mich erinnern, dass Lehrer es früher unangemessen fanden, wenn in den Pausen allzu heftig geknutscht wurde. Es sollte aber auch hier die abgewandelte liberalitas bavariae gelten: Leben und küssen lassen.

Sebastian Krumbiegel, 47, ist Sänger in der Band „Die Prinzen“ und Solokünstler

„Sie sollen sich doch in der Öffentlichkeit küssen, die Leute. Das ist besser, als wenn sie Autos anzünden.“ Das hat mir eine ältere Dame gesagt. Und sie hat Recht! Ich hakte nach und fragte sie, ob es für sie da Grenzen gäbe, ob sie sich zum Beispiel gestört fühle, wenn öffentlich Mädchen Mädchen küssen oder Jungs Jungs, und sie hat sehr cool reagiert. Nein, das würde sie überhaupt nicht stören – Küssen sei doch der Ausdruck dafür, dass sich zwei Menschen lieben, und wir seien doch mittlerweile aufgeklärt genug, zu akzeptieren, dass die Liebe eben da hin fällt, wo sie hin fällt. Wir haben das Thema noch erweitert und sprachen über die Demonstrationen in Istanbul, Ankara oder die Proteste in Afrika oder sonst wo auf der Welt. Sie sagte: „Stellen Sie sich mal vor, es würden ganze Kuss-Armeen weiblicher Demonstranten losziehen und die Polizisten mit einer entwaffnenden Kuss-Offensive davon abhalten, zu prügeln oder Tränengas abzufeuern – wäre das nicht großartig?“ Ja – das wäre es wohl. Also auch von mir ein klares Votum für öffentliche Knutscherei wann und wo auch immer…

Wolfgang Schmidbauer, 72, Autor und Psychoanalytiker aus München

Da der Valentinstag eindeutig von der Blumenindustrie gesponsert wird und der Muttertag ebenso wie die Autobahnen von den Nazis usurpiert wurde, habe ich auch kurz nachgedacht und ein wenig im Internet recherchiert, welche Interessen hinter dem Tag des Kusses stehen, der die taz zu ihrer Frage veranlasst. Er soll 1990 in England erfunden worden sein und sich „zögernd“ durchgesetzt haben. Mein Verdacht richtet sich auf die Partnervermittlungsindustrie im Internet; meine finstersten Gedanken setzen das in Richtung Pornoindustrie fort (wo es ja einen speziellen Zweig für Obszönitäten in der Öffentlichkeit gibt). Tage des Kusses und öffentliche Küsse sind Geschmackssache, ich kann weder dafür noch dagegen sein, fand aber Italien 1966 irgendwie reizvoll rückständig. Damals reiste ich verliebt dorthin und Küsse auf den Mund waren als atto osceno in luogo publico verboten. In der Öffentlichkeit zu knutschen ist so viel und wenig obszön wie Ferrari fahren; wem es nicht gefällt, der kann wegschauen, und wenn etwas verboten werden soll, würde ich den Ferrari verbieten.

Chio Schumacher ist taz-Leserin und kommentierte unsere Frage per E-MailEs ist nicht immer appetitlich, fremden Leuten beim Knutschen zuzuschauen. Viel öfter als küssende Pärchen sieht man allerdings Paare in der U-Bahn oder beim Einkaufen, die sich ankeifen oder nichts zu sagen haben. Manchmal, das muss sogar ich zugeben, wird man ein wenig romantisch, wenn man ein küssendes Paar vor sich hat. Oder wenn sich alte Menschen an der Hand nehmen. Oder Paare sich beim Sprechen tief in die Augen schauen. Küssen ist gut. Küssen ist richtig. Küsst öfter. Alle. Egal in welcher Konstellation.

Nein

Gernot Hassknecht (Kunstfigur) ist Kommentator der ZDF-Satire „heute show“

Ehrlich gesagt, wenn sich irgendwelche Leute in der Öffentlichkeit gegenseitig den Lappen bis zum Zäpfchen in den Hals schieben, ist mir das herzlich egal. Klar wäre es schöner, wenn das nur attraktive Menschen unter 30 dürften, aber wir leben ja nun mal leider in einem freien Land. Was mich tatsächlich aufregt, sind diese verlogenen Wangen-Bussis unter Politikern. Wenn die Merkel dem Obama die Rübe ableckt, obwohl sie stinksauer auf ihn sein müsste, weil er immer ihre Mails an Seehofer mitliest. Verdammte Heuchelei. Sie sollte Obama lieber ihr „volles Vertrauen“ aussprechen. Erfahrungsgemäß ist das der ultimative Sargnagel für jede Polit-Karriere, im Grunde so was wie der Todeskuss der Cosa Nostra. Ansonsten ist der einzige Kanzlerinnen-Schmatzer, auf den ich mich wirklich freue, der Abschiedskuss für Pilipp Rösler am 22. September. Dann von mir aus auch mit Zunge.

Hans-Michael Klein ist Vorsitzender der Deutschen Knigge-Gesellschaft

Wo nun jeweils die Schamgrenze liegt, definieren die Kulturen sehr individuell. In Asien und im Orient dürfen nicht einmal Verheiratete öffentlich Händchen halten. In Argentinien werden auf der Straße Softpornos gedreht, allerdings ohne Kamera. Deutschland liegt wohl irgendwo dazwischen. Kampfknutschen geht gar nicht, gegen Public Schmusing sagt niemand etwas. Sozial kompatible Menschen wissen intuitiv ganz genau, was nicht geht: in die Fußgängerzone pinkeln, Pornos und Horrorfilme gucken im Zug, Sex in der Öffentlichkeit. Genauso verfügt jeder über eine eingebaute öffentliche Knutschgrenze. Danach ist Knutschen okay., solange es sich in gewissen Grenzen hält. Nicht zu lang, nicht zu intensiv, mit unsichtbaren Zungen und ohne Einbeziehung primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale. Man knutsche einfach so, dass andere nicht verlegen wegschauen müssen. Oder kategorisch nach Kant: Knutsche stets so, dass die Maxime Deines Knutschens allzugleich als Grundlage für die Anwesenheit Deiner Mutter dienen könnte. Dann passt’s schon.

Lea Frank, 17, ist taz-Praktikantin und Chefredakteurin der Schülerzeitung „MarieCurier“

Knutschende Pärchen sind für ihre Umgebung eine Belastung. Besonders in der Schule ist das Fremdschäm-Potenzial enorm. Mitschüler schmiegen sich in den Pausen in unfreiwillig komischen Twilight-Posen aneinander. Der Anblick verfolgt einen bis nach Hause. Denn was bedeutet „Öffentlichkeit“ im Zeitalter des Internets? Facebook unterstützt gnadenlos die Zurschaustellung des Speichelaustauschs: Fotos der Verliebten, virtuelle „<3“ und „forevvaa in looove“-Statusmeldungen … Man kann ihnen nicht entfliehen, den Knutschverrückten. Ist doch klar, dass man da Paranoia schiebt.

Jess Jochimsen, 42, ist Autor und Fotograf des Bildbandes „Liebespaare bitte hier küssen!“

Nein! Öffentliche Erregung ist ein Ärgernis – vor allem für jene, die ungeküsst aus dem Haus gehen müssen. In tendenziell unküssbaren Teilöffentlichkeiten sieht das anders aus. Auf Parteitagen oder Aktionärsversammlungen fällt hemmungsloses Knutschen unter „Denkanstoß“ respektive „Eröffnung völlig unbekannter Welten“. Hingebungsvolles Knutschen ist etwas Besonderes und sollte an schönen Orten stattfinden; die Öffentlichkeit scheidet also aus. Am „Internationalen Tag des Kusses“ wird nicht öffentlich geküsst; wie beginge man sonst den „Europäischen Depressionstag“? Ein Gläschen Prozac und Russisch Roulette in der Fußgängerzone? Faschisten sind jedoch zu küssen, wo man sie trifft.

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