: Zwischen Legende und Rente
Der Western erlebt zwar keine Renaissance, doch erstaunlich viele Filme nehmen sich zurzeit seiner Motive, Figuren und Konflikte an. So entstehen bemerkenswerte Westernhybride – nicht nur der Oscar-Favorit „Brokeback Mountain“ von Ang Lee
von UH-YOUNG KIM
Nach langem Schattendasein ist der Western zurück. Aktuelle Flirts mit Cowboys und ihren Problemen sind unter anderem im knallbunten Thai-Western „Tears Of The Black Tiger“ zu sehen, in der historisch akkuraten TV-Serie „Deadwood“ und natürlich im diesjährigen Oscar-Favoriten „Brokeback Mountain“. Am Sonntagabend werden die begehrten Auszeichnungen in Los Angeles verliehen, und es grenzte wohl an ein Wunder, ginge der in acht Kategorien nominierte Film von Ang Lee leer aus.
Der Western galt lange Zeit als überholt. Abgelöst wurde das Genre von Gangster- und Science-Fiction-Filmen; Asyl fand es im Nachtprogramm des Regionalfernsehens und bei den Retrospektiven von Filmfestivals – John Ford lässt das Herz jedes Cinephilen höher schlagen. Die diesjährige Berlinale präsentierte den Director’s Cut von Sam Peckinpahs „Pat Garrett jagt Billy The Kid“ prominent als Abschlussfilm. Doch für Hollywood sind Männer auf Pferden seit dem Kassenflop von Michael Ciminos „Heaven’s Gate“ (1980) ein rotes Tuch.
Dass die Tage des pathetischen Wild-West-Epos gezählt sind, wird auf charmante Weise in der Reise-Dokumentation „Go West, Young Man!“ deutlich, die zurzeit durch hiesige Kinos tourt. Die beiden niederländischen Filmemacher Peter Delpeut und Marc Dominicus begeben sich auf die Suche nach Überresten des Mythos in den heutigen USA. Sie entdecken gespenstische Orte einer vergessenen Kultur und begegnen nostalgischen Grabeshütern, die sich nichts sehnlicher als eine Renaissance des Western wünschen. Von einer Wiedergeburt im Multiplex-Format kann indes kaum die Rede sein. Vielmehr materialisiert sich der „Geist des Genres“, wie ihn Georg Seeßlen in dem Standardwerk „Western-Kino“ untersucht, in den Nischen des Autorenfilms als hybrider Wiedergänger. Sein Bilderrepertoire, besonders die Figur des gebrochenen Helden und der Umgang mit Zeit und Raum, wird aufgenommen und ergänzt, Urkonflikte und Motive wie die Selbstjustiz in die Gegenwart versetzt.
Die notwendige Vorarbeit hierfür leistete Jim Jarmusch mit „Dead Man“ (1995), indem er den Western, wie ihn Ronald Reagan liebte, radikal entmythisierte. Statt auf unberührte Landschaften stößt sein Protagonist William Blake auf eine kapitalistische Gesellschaft. Die Codes und Regeln, die in Edelwestern wie „High Noon“ das soziale Leben bestimmen, weichen bei Jarmusch dem Zufall und der Willkür; der Antiheld reist gewissermaßen an der Rückseite des Mythos entlang in den Tod. Hatte der Western seine Mythologie und Ideologie immer auch selbst in Frage gestellt und facettenreich durchdekliniert, demontierte Jarmusch den Traum von der unbegrenzten Freiheit in seine Bestandteile. Aus den Trümmern zauberte Quentin Tarantino knapp eine Dekade später „Kill Bill 2“.
Was die Western-Hybride von 2005 eint, ist eine unspektakuläre Erzählweise, die sich computergenerierten Actionsequenzen verweigert. Darin äußert sich auch ein Bedürfnis nach einer fassbaren und verlässlichen Wirklichkeit im Kino. In „Brokeback Mountain“ – ab nächstem Donnerstag ist der Film auch in Deutschland zu sehen – schafft Ang Lee durch Sparsamkeit den nötigen Raum, die Langzeitfernbeziehung der beiden Helden Jack und Ennis behutsam in Szene zu setzen. Der Erzählrhythmus ist zurückgenommen, um den blinden Fleck in Augenschein zu nehmen, der allen Western zu eigen ist. Die Homoerotik unter Cowboys erlebt ihr Coming-out durch das typische Duo des wortkargen, gehemmten Westerners und seines androgynen Gegenparts. Im gewalttätigen Liebesakt bricht sich die unterdrückte, sonst durch Schießereien und Raufereien kompensierte Sexualität in einer Welt des Männerüberschusses Bahn.
Die sparsamen Mittel des Western kommen dabei wieder zur Anwendung, um einen Mikrokosmos zu entwerfen, in dem Identitätssuche und Machtfragen präzise verhandelt werden können. In dessen Zentrum steht ein Nachkomme des seit den Fünfzigerjahren klassischen, von Selbstzweifeln geplagten Helden. Für ihn ist es unmöglich, Heimat, Glück oder auch nur einen Platz in der Gesellschaft zu finden, ständig ist er auf der Flucht. Schon David Carradine in „Shane“ (1953) oder John Wayne in „Der schwarze Falke“ (1956) verkörperten das Paradox des Individualisten, der sich in den Dienst der Gemeinschaft stellt, aber zur Einsamkeit verdammt bleibt. Die Gebote von Loyalität und Freundschaft waren bereits aufgehoben, als sich der Männerbund aus Sam Peckinpahs „Wild Bunch“ (1969) ins finale Massaker stürzte. Und gegen die Kaputtheit des Killers aus Clint Eastwoods düsterer Rachegeschichte „Erbarmungslos“ (1992) wirkten die Ideale, die Kevin Costner 2003 in „Open Range“ hochhielt, wie aus einem fiebrigen Jungstraum.
Am offensichtlichsten lässt Wim Wenders den physisch und psychisch gebrechlichen Helden auferstehen, wenn er in seinem Road Movie „Don’t Come Knocking“ einen Cowboydarsteller zwischen Legende und Rente durch die Midlife-Krise und mythologische Landschaften treibt. Aber weniger die Weite der Prärie als vielmehr die Enge der typisch amerikanischen Kleinstadt bildet heute den Aktionsraum der Figuren. Dieses paradigmatische Western-Setting nutzt David Cronenberg in „A History Of Violence“ als Versuchslabor für seine Hypothese, dass an jedem harmonisch verklärten Landidyll Blut klebt. Distanziert und doch impulsiv spielt sich die klassische Erzählung des Revolverhelden, der der Gewalt abgeschworen hat, aber zum Schutz seiner selbst und seiner Familie zur Waffe greifen muss, in der Gegenwart ab.
Die Selbstjustiz ist eines der Hauptmotive im Western. Der Gewalt des Staates traut man noch nicht oder nicht mehr, ihre ausführenden Kräfte sind nicht fähig, die Bürger zu beschützen, oder sie sind korrumpiert. In John Singletons testosterongetriebenem Vendetta-Drama „Four Brothers“ – einem Remake des Western „Die vier Söhne der Katie Elder“ (1965) im Blaxploitation-Gewand – geht die Idee, die Bösen mit den eigenen Mitteln zu bekämpfen, ungesühnt auf. Bei Cronenberg dagegen ist die Selbstjustiz Teil eines unauflösbaren Geflechts aus Schuld und Rache. Die Bedrohung bricht nur scheinbar unvermittelt von außen in das heile Familienleben ein. Es ist die Vergangenheit, die den ehemaligen Mobster im Kronzeugenprogramm einholt. So fällt die zur Befriedung eingesetzte Brutalität, wie sie im Mythos von der Geburt der Nation propagiert wird, wieder auf den Helden zurück. Der Preis, den er dafür zahlt, ist der Verlust seines heilen Familienlebens, das er verteidigen wollte. Schon im doppeldeutigen Titel des Films wird das geschichtslose Subjekt wieder zu einer historischen Struktur in Beziehung gesetzt. Hier verhalten sich Zivilisierung und Gewalt, Freiheit und Ausbeutung seit je komplementär zueinander. Die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft entpuppt sich als eine Folge von Gewalttaten, deren Konsequenzen ständig an die Oberfläche drängen.
Das persönliche fällt so mit dem kollektiven Trauma zusammen. Haben einst Rezession, Kommunistenjagd und Vietnam ihre Spuren im Western hinterlassen, schlagen nun der 11. September 2001, die Doppelmoral des „mitfühlenden Konservatismus“ der Bush-Regierung sowie die Auseinandersetzung mit der Bedrohung aus dem Nahen Osten Funken im filmischen Schaffen. Das uramerikanische Filmgenre hält einen reichen Fundus an Materialien und Diskursen bereit, um die politischen Konflikte zu kommentieren, die damals wie heute aus dem Fundamentalismus von Nation und Religion hervorgehen. Die Skepsis gegenüber den Ordnungsmächten ist noch gewachsen und äußert sich in Verunsicherung, aber auch Wut.
Im Zuge dieser Kritik stellt „Buffy“-Erfinder Joss Whedon in der Space-Western-Serie „Firefly“ und in ihrem Spielfilmkonzentrat „Serenity“ die Absolutheitsansprüche der Supermacht in Frage. Bemerkenswerter als die Verlagerung der frontier ins Weltall ist Whedons Auseinandersetzung mit der dort herrschenden Alliance. Dieser Bund begreift sich als aufgeklärt, doch setzt er sein Ziel, den Rest der Galaxie zu zivilisieren, mit militärischen Mitteln durch. Trotz der Verweise auf die Politik der US-Regierung kommt Whedon ohne direkte Verurteilungen aus.
An den Grenzübergängen zwischen Gut und Böse, zwischen Cowboys und Indianern ist es unübersichtlich geworden. Mitten dort hinein, genauer gesagt in das Grenzland zwischen Texas und Mexiko, begibt sich Tommy Lee Jones in seinem 2005 in Cannes ausgezeichneten Film „The Three Burials Of Melquiades Estrada“. Jones schraubt die wesentlichen Themen und Figuren der aktuellen Westernhybride um jeweils eine Umdrehung weiter. Die typische Kleinstadt ist zum Trailerpark verkommen, deren Trostlosigkeit die Naturpanoramen entgegenstehen. Mit Hilfe eines alten Cowboys, der im Dienste der Gerechtigkeit zu brutalen Mitteln greift, beginnt hier endlich auch die andere Seite in Gestalt illegalisierter mexikanischer Flüchtlinge zu sprechen. Es geht um einen mexikanischen Wanderarbeiter, der von einem Grenzpolizisten erschossen wird. Der von Jones gespielte Cowboy Pete zwingt den Mörder, die Leiche nach Mexiko zu bringen. Die Bewohner der texanischen Kleinstadt und ihre korrupten Polizisten sind zu neurotischen Erben der Westerners und Sheriffs degeneriert. In den Illegalen wiederum, die sich nun um die Viehherden kümmern, leben die Ideale des amerikanischen Gründungsmythos fort – die Hoffnung auf ein besseres Leben, die Brüderlichkeit im harten Alltag von Immigranten und die Verbindung zur Natur. Über dem bitterkomischen Film schwebt die Frage nach der Möglichkeit von Vergebung für die Gewalttaten, die erst zur Zivilisierung und dann zum Schutz der Nation begangen wurden. Die Antwort liegt auf dem Leidensweg in den Süden.
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