piwik no script img

Bruch mit dem gewohnten Blick

ZEITGESCHICHTE Ein soziologisches Experiment vor dem Hintergrund politischer Grabenkämpfe – die Historikerin Beata Halicka und ihr Buch „Polens Wilder Westen“ über die Nachkriegszeit

Das Gesetz und die Faust“ hieß der Film, den das Erste Deutsche Fernsehen 1969 an einem Samstagabend im Spätprogramm zeigte.

Ein klassischer Western im Stil von „High Noon“. Einsamer Held im entlegenen Westen kämpft an der Seite friedlicher Siedler gegen die Übergriffe brutaler Banden für eine gerechte Ordnung. So weit, so bekannt. Das Besondere dabei: Dieser Wilde Westen lag nicht in Amerika, sondern in Polen. 1964 hatte Jerzy Hoffman den Streifen über die unmittelbare Nachkriegszeit in den „wiedergewonnenen Gebieten“, wie die ehemals deutschen, nun polnischen Gebiete offiziell hießen, gedreht.

Dass der Film im deutschen Fernsehen lief, war in einer Zeit der Aufbrüche und im Vorfeld der Neuen Ostpolitik ein Bruch mit dem gewohnten Blick auf das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit im Osten. Stand ansonsten das Leid der deutschen Vertriebenen im Vordergrund, so ging es hier um den Aufbau einer neuen Gesellschaft in einem von Deutschen verlassenen Land. Diese Perspektive ist für Deutsche eine ungewohnte geblieben. Die Historikerin Beata Halicka nimmt sie in ihrem Buch „Polens Wilder Westen“ erneut ein und verschafft heutigen Lesern so Erkenntnisse in einem Bereich, der nach wie vor eher einseitig mit Blick auf die deutschen Vertriebenen wahrgenommen wird.

In Halickas Buch tauchen die deutschen Bewohner durchaus auf. Übergriffe, Härten von Flucht und Aussiedlung werden weder verschwiegen noch verharmlost. Aber es findet dabei eine Perspektiverweiterung statt. Etwa, wenn die Flucht der deutschen Bevölkerung vor der herannahenden Front aus der Sicht polnischer Zwangsarbeiter geschildert wird. Oder wenn polnische Neusiedler vom vorübergehenden Zusammenleben mit den Deutschen berichten. Halicka stützt sich auf einen umfangreichen Fundus polnischer, oft biografischer Dokumente, die über die ersten drei Nachkriegsjahre detailliert Auskunft geben.

In einer „Geschichte von unten“ entfaltet sich so die Konstruktion einer neuen polnischen Gesellschaft. Die Autorin lässt dabei keinen Zweifel, dass die Dekonstruktion der vormalig deutschen Gesellschaft bereits 1933 begann, mit dem Krieg forciert wurde und mit der von den Alliierten beschlossenen Aussiedlung – anders als einmal geplant – vollendet wurde. Polen sah sich nun gezwungen, innerhalb kürzester Zeit die ehemals deutschen Ostgebiete zu polonisieren. Es reagierte damit gleichzeitig auf die Vertreibung der Polen aus den nun sowjetisch gewordenen polnischen Ostgebieten.

Zusammen mit den ostpolnischen Vertriebenen mussten die bereits ansässigen polnischen „Autochthonen“ und die große Zahl von „Pionieren“ aus Zentralpolen eine neue Gesellschaft schaffen. Ein soziologisches Experiment vor dem Hintergrund politischer Grabenkämpfe.

Mit der Sowjetmacht im Rücken setzte sich die Dominanz und schließlich das Monopol der Kommunistischen Partei schnell und ziemlich gewaltsam durch. Schienen die neuen Westgebiete anfangs ein geeigneter Ort zum Untertauchen, verfolgte der Geheimdienst politisch Missliebige hier bald besonders gnadenlos. Der Aufbruch zu einer neuen Gesellschaft und die materielle wie kulturelle Aneignung des Raums war für die polnischen Neusiedler außerordentlich schwierig und mit vielen Enttäuschungen verbunden.

Er besaß jedoch in Polen auch eine starke Dynamik und eine Anziehungskraft, wie sie nur der Wilde Westen hat und wie man sie nun in einem Buch nachvollziehen kann, das die historische Wahrnehmung wesentlich zu erweitern hilft. STEPHAN SCHOLZ

Beata Halicka: „Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945–1948“. Schönigh, Paderborn 2013, 393 Seiten,

29,90 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen