: Deutsch als Fremdsprache
GOETHE-MEDAILLE Der Schriftsteller und Übersetzer Petros Markaris wird nächste Woche vom Goethe-Institut in Weimar geehrt. Er übertrug Brecht und Goethe ins Griechische, schuf eine amüsante Krimiserie. Und schreibt nicht zuletzt für diese Zeitung Essays zum deutsch-griechischen Verhältnis sowie diesen exklusiven Beitrag zu seiner Biografie
■ Lebenslauf: 1937 in Istanbul geboren, lebt in Athen. Vater Armenier, Mutter Griechin. Besuchte die österreichische Schule in Istanbul. Studierte Wirtschaft. Schreibt auf Griechisch, Türkisch und Deutsch.
■ Werk: Seine Kriminalromane mit dem schrulligen Ermittler „Kostas Charitos“ erscheinen im Diogenes Verlag, dort auch 2008 seine Autobiografie „Wiederholungstäter. Ein Leben zwischen Istanbul, Wien und Athen“.
■ Ehrung: Zusammen mit dem iranischen Übersetzer S. Mahmoud Hosseini Zad und dem indischen Verleger Naveen Kishore wird er am 28. August im Residenzschloss Weimar mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet.
VON PETROS MARKARIS
Die wichtigen Entscheidungen, die das Leben eines Menschen bestimmen, werden oft nicht von ihm selbst, sondern von anderen getroffen.
Ich war Zwölf, als mein Vater mir an einem schönen Sommertag sagte, dass ich mein Studium an einem deutschsprachigen Gymnasium fortsetzen sollte. Ich hatte bis dahin weder einen Deutschen getroffen noch ein deutsches Wort gehört.
So saß ich zu Beginn des neuen Schuljahrs in einer Klasse des Sankt-Georg-Kollegs, in Istanbul, und lernte von einer österreichischen Lehrerin namens Elisabeth meine ersten deutschen Wörter. Fräulein Elisabeth sprach vom ersten Schultag an nur Deutsch mit uns.
Wir waren eine Kindergemeinschaft, die ihre Sprache im Schulhof zurückgelassen hatte. Die neuen Wörter waren uns fremd, ihr Wortklang auch. Wir sehnten uns nach unserer eigenen Sprache und warteten sehnsüchtig auf die Pause.
Nach den ersten Monaten ging es schon besser. Wir sprachen zwar noch kein Deutsch, konnten aber einige Wörter stammeln, um uns mit Fräulein Elisabeth halbwegs zu verständigen. Gleichzeitig war aber auch die Sehnsucht nach der Pause vergangen, denn die Schulbrüder des Sankt-Georg-Kollegs zwangen uns auch, während der Pause miteinander Deutsch zu sprechen.
Das Mittel dazu war „das Holz“. Der Klassenlehrer gab vor der Pause einem der Schüler ein braunes rechteckiges Stück Holz. Der Schüler hatte die Pflicht, das Holz an einen Schüler zu geben, der die Sehnsucht für seine eigene Sprache nicht überwinden konnte, also kein Deutsch sprach. Der Schüler, der das Holz bekam, musste einen anderen Schüler finden, der auch kein Deutsch sprach, um das Holz weiterzugeben. Jener Schüler, dem das Holz am Ende der Pause in der Tasche stecken blieb, musste einen Beitrag in die Klassenkasse leisten. Mit diesem Geld machten wir dann am Ende der Schulzeit einen Ausflug.
So versuchten wir während der Pause Deutsch zu sprechen, um Taschengeld zu sparen. Dabei wusste der eine nicht, wie er einen Satz auf Deutsch formulieren sollte, und der andere verstand nicht, was ihm sein Freund sagte. Auf einmal ertönte aber im Schulhof eine Stimme, die in makellosem Deutsch sagte: „Nimm das Holz!“ Das war der einzige Satz, den wir fehlerfrei aussprechen konnten.
Istanbul wuchs in mir gleichzeitig mit der deutschen Sprache. Am Anfang waren es kurze Strecken: von der Schule bis zur Bushaltestelle oder bis zum Taksimplatz. So erging es mir auch mit der deutschen Sprache. Es waren zuerst kurze Texte, die ich zu lesen und zu verstehen versuchte. Nach und nach wurden die Spaziergänge in der Stadt länger, so wie auch die Spaziergänge in der deutschen Literatur immer länger wurden.
Istanbul war in den fünfziger Jahren eine offene Stadt und ein Schmelztiegel von diversen Ethnien und diversen Kulturen. Das war für einen Jungen, der eine fremde Sprache lernen wollte, eine große Hilfe. Denn die Diversität erkannte man vor allem an der Vielfalt der Sprachen. Als ich meine ersten Spaziergänge von der Schule bis zum Taksimplatz machte, hörte ich gleichzeitig Türkisch, Griechisch, Armenisch, sephardisches Jüdisch, Französisch und Italienisch. Die vielen Sprachen gehörten zum Alltag der Istanbuler.
Trotz der Vielfalt der Ethnien, der Kulturen und Sprachen war Istanbul eine orientalische Stadt. Neunzig Jahre Türkischer Republik, in denen der Integrationsprozess der Türkei in den Westen abgeschlossen wurde, konnten die Dominanz des Orients nicht beseitigen.
Von Istanbul nach Wien
Die islamische und die christliche Religion existieren sonst nirgendwo auf der Welt so eng nebeneinander. Das ist vor allem die Folge eines orientalischen Pluralismus. Denn auch die christlichen Religionen in Istanbul, die griechisch-orthodoxe und die armenisch-gregorianische, sind östliche Religionen. Es bleibt eine offene Frage, ob dieses Zusammenleben von Kulturen mit einer westlichen Religion, wie zum Beispiel der katholischen, möglich gewesen wäre.
Die größte Zerstörung hat das byzantinische Konstantinopel nicht nach der Eroberung der Stadt durch die Osmanen erlebt, sondern durch die katholischen Kreuzzügler und die Venezianer, am Anfang des 13. Jahrhunderts, denen die orthodoxe Religion weitaus mehr verhasst war als den Muslimen. Die Verwüstung der Stadt durch die Venezianer und die unzähligen menschlichen Opfer saßen so tief im Bewusstsein der Byzantiner, dass sie zweieinhalb Jahrhunderte später die osmanische Eroberung der Stadt als das kleinere Übel betrachteten.
Es war ein Jahr vor der Matura, als mein Vater mir mein zweites Zukunftsprojekt vorlegte. Ich sollte Wirtschaft studieren. Das war schlimmer als mit der deutschen Sprache. Wenn die deutsche Sprache für mich eine Reise in die Fremde und somit auch ein Abenteuer war, so war mir das Wirtschaftsstudium ein Gräuel. Ich wollte keine Wirtschaft studieren. Es war aber für einen jungen Mann in Istanbul der fünfziger Jahre undenkbar, seinem Vater Widerstand zu leisten, vor allem wenn dieser junge Mann in einer Minderheit aufgewachsen war. Es hatte auch keine Diskussion gegeben. Mein Vater hatte entschieden, dass ich Wirtschaft studiere, und damit basta.
Wenn man seinem Vater in der Studienauswahl nicht widersprechen darf, dann ist die nächste Verteidigungslinie für den jungen Mann, ein schlechter Student zu werden. Und ich war ein sehr schlechter Student. Ich ließ mich zwar in die Ökonomische Fakultät in Istanbul einschreiben, mied aber jeden Kontakt mit ihr. Es dauerte zwei Jahre, bis mein Vater einsah, dass ich es mit dem Studium nicht ernst meinte. Er wollte trotzdem nicht aufgeben. So machte er mir den Vorschlag, zum Studium nach Wien zu gehen.
Ich habe sofort zugesagt. Zwar wollte ich nach wie vor kein Wirtschaftsstudium machen; ich wollte nur weg von Istanbul. Nicht von der Stadt selbst, die ich so sehr liebte, sondern von der griechischen Minderheit. Ich lebte in einem alltäglichen Widerspruch. Einerseits das multikulturelle, weltoffene Istanbul, andererseits die in sich geschlossene, konservative griechische Minderheit. Ich konnte mich mit diesem Widerspruch nicht versöhnen. Meine Reise von Istanbul nach Wien war gleichzeitig eine Reise vom Orient in den Okzident. Ich kam von einer weltoffenen Stadt orientalischer Prägung in eine Stadt, die von der Geschichte und der Kultur der österreichisch-ungarischen Monarchie geprägt war.
Die eigentliche Entdeckung war aber für mich nicht nur Wien, sondern das ganze Europa. Ich fing mit Budapest und Prag an und bereiste dann Deutschland. Warum nicht Paris, Rom, oder London, werden Sie sich vielleicht fragen. Die Antwort ist einfach: wegen der Sprache.
Als ich Istanbul verließ, war ich dreisprachig. Ich konnte genauso gut Griechisch, Deutsch und Türkisch sprechen und schreiben. In Wien und von Wien aus wollte ich zwei Jahre lang nur noch Deutsch sprechen und hören. Ich weiß bis heute nicht, warum. Es könnte aber sein, dass ich meine Beziehung nicht nur zu Wien, sondern auch zu Mitteleuropa mit der deutschen Sprache gleichgestellt hatte.
Manche Leser, die meine Artikel über die Krise in Europa gelesen haben, wundern sich, warum ich einen so großen Wert auf das Verständnis der verschiedenen Kulturen in Europa lege.
Ich bin Kind einer Mischehe. Gleichzeitig bin ich aber auch Kind einer Mischehe der Kulturen. Ich hätte diese kulturelle Mischehe ohne die deutsche Sprache nicht geschafft. Und ich weiß, wie tief diese Kulturen meinen Charakter, meine Denkweise und meine Sicht auf die Welt geprägt haben.
Ich habe meinen Vater mit dem Wirtschaftsstudium reingelegt. Das war vielleicht eine Lüge jener Art, wie man sie heute den Griechen vorwirft. Man sollte aber Lügen eine Chance geben, soweit sie alternative Möglichkeiten schaffen. Das ist heute in einem Europa der einheitlichen Finanzpolitik ohne Alternativen schwer zu verstehen.
■ Petros Markaris’ neuer Kriminalroman „Abrechnung“ erscheint im September bei Diogenes
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