: Tot oder lebendig im Gangsta-Kapitalismus
I HAVE A DREAM Vor fünfzig Jahren hielt Martin Luther King seine berühmteste Rede. Was ist von ihr heute übrig?
VON KLAUS WALTER
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird … Free at last.“
Martin Luther King (MLK) beim Marsch auf Washington am 28. August 1963 vor 250.000 Leuten. Keine politische Rede wird in der populären Musik häufiger aufgegriffen. Der Jazzschlagzeuger Max Roach verwendet „I have a dream“ ebenso wie der Chicagoer House-Produzent Gene Farris für seinen Track „Black History“. Der R-&-B-Produzent Terius Nash gibt sich den Namen The Dream. Unzählige Musiker würdigen King, Duke Ellington und Herbie Hancock, Nina Simone und die Staples Singers, UB 40 und U2. Auf King, und da beginnt das Problem, können sich (fast) alle einigen. Tote können sich nicht wehren. Fünfzig Jahre nach seiner Rede verkommt Martin Luther King zum patriotischen Maskottchen, seine Message wird korrumpiert.
Neu verpackte Geschichte
Mit dieser Diagnose platzt Gary Younge in die Geburtstagsparty. Unter dem Titel „The Misremembering of ‚I have a dream‘ “ wendet sich der afrobritische Autor in The Nation gegen „the repackaging of history“. Die Neuverpackung der Geschichte beruhe auf der Verdrängung historischer Fakten. Younge erinnert daran, dass King zu Lebzeiten von den meisten Amerikanern abgelehnt wurde, einer von denen erschoss ihn am 4. April 1968.
Ein Jahr vor seiner Ermordung hält King in der New Yorker Riverside-Kirche eine Rede, die so gar nicht in den patriotischen Kanon passen will. King attackiert die amerikanische Kriegspolitik in Vietnam, für das Life-Magazin eine „demagogische Verunglimpfung“.
Posthum wird der Nestbeschmutzer zur nationalen Ikone, seine Rede wird gegen ihre Intention zitiert, besonders dreist von Ronald Reagan. Der große Manipulator zitiert King 1986 als Kronzeugen für die Abschaffung der affirmative action, also der Fördermaßnahmen und Quotierungen für Schwarze. „Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Chancen haben, deswegen sind wir gegen jede Quote“, so Reagan. „Wir wollen eine farbenblinde Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der man, mit den Worten Dr. Kings, die Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.“ Geschichtsrevionismus pur, King war ein Verfechter der affirmative action. Die Gesellschaft müsse etwas für die Afroamerikaner tun, weil sie über Jahrhunderte etwas gegen sie getan habe, sagte er.
Der Traum von der rechtlichen Gleichstellung sei erfüllt, so Gary Younge, der Traum vom Ende des Rassismus nicht. „Die Arbeitslosigkeit unter Schwarzen ist doppelt so hoch wie unter Weißen, die Anzahl schwarzer Kinder, die in Armut leben, ist fast dreimal so hoch wie die der Weißen, die Lebenserwartung schwarzer Männer in Washington D.C. ist niedriger als im Gazastreifen.“
Das böse Erwachen aus dem Traum beginnt spätestens mit Kings Ermordung und spiegelt sich in der (afro-)amerikanischen Musik. Der Kritiker Marshall Lewis: „Das Konzept der Integration wurde infrage gestellt, als immer klarer wurde, dass vor allem die schwarze Mittelklasse von der Bürgerrechtsbewegung profitiert hatte.“
Fast totgeschlagen
Wenn nur die schwarze Mittelklasse von der Bürgerrechtsbewegung profitiert, muss die schwarze Unterklasse anders an Geld kommen. Das Ende der Integrationsträume markiert den Aufstieg der Gangsterökonomie und – am langen Ende – des dazugehörigen Life-&-Pop-Styles: Gangsta Rap. Die Riots vom April 1992 lassen Leute, die noch an MLKs gewaltlose Politik glauben, als naive Träumer dastehen. King der Stunde ist Rodney, fast totgeschlagen von der L.A.P.D.
Der Sound dazu heißt „Fuck tha Police“ und kommt von N.W.A. – Niggaz Wit Attitude. Die Attitüde ist nicht: Halte die andere Wange hin. Compton und South Central, die Brutstätten des Gangsta-Rap, werden zum Symbol der gescheiterten Integration, statt love & unity wird der Gang War zur Matrix gesellschaftlicher Prozesse.
„To Live and Die in L.A.“ rappt 2Pac. „Ready to Die“ ist der Hit von Biggie Smalls, beide werden reich und sterben jung. „Get rich or die tryin‘ “ – vierzig Jahre nach „I have a dream“ formuliert 50 Cent mit seinem Bestseller-Debütalbum den Traum vieler Afroamerikaner, neun Kugeln im Körper des einstigen Crackdealers beglaubigen die Message.
Vom Crackdealer zum Millionär, Shawn Carter alias Jay-Z wurde reich, ohne zu sterben, ein Survivor im Gangsta-Kapitalismus. An seiner Seite Beyoncé. Mit ihrem flexiblen Ellbogenfeminismus und dem unbedingten Aufstiegswillen verkörpert Beyoncé die First Lady im Power Couple No. 2 der African American Aristocracy. Mit Michelle und Barack, dem Power Couple No. 1, ist man gut befreundet. In den Kämpfen um gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe hat Beyoncés Independence dem Respect von Aretha Franklin als Leitmotiv den Rang abgelaufen. Beyoncé ermutigt Frauen zur Unabhängigkeit vom männlichen Versorger, sie propagiert aber auch Unabhängigkeit vom Staat, von affirmative action, von Sozialfürsorge.
Ego-Politics ersetzen Bürgerrechtsbewegung. Fünfzig Jahre nach „I have a dream“ sind die Idole des schwarzen Amerika Rapper wie Jay-Z und Kanye West. Sie haben sich durchgeboxt und nutzen ihren Ruhm auch mal zu politischen Statements. „Heute sitzen mehr Afroamerikaner im Gefängnis, als es Mitte des 19. Jahrhunderts Sklaven gab“, so West. Um 700 Prozent ist die Zahl der Inhaftierten seit 1970 gewachsen. Wenn der Trend anhält, wird einer von drei schwarzen Männern, die heute geboren werden, im Gefängnis landen. Free at last!
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