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Mitleid um jeden Preis

Der Weiße Ring zeigt eine Ausstellung von Bauhaus-Studenten zu Opfern häuslicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs. Und warnt selbst vor der Drastik der Bilder

Es scheint unwahrscheinlich, dass man die Anteilnahme der Menschen an anderen durch eine Verstärkung der optischen Auslöser erhöhen könnte

von Friederike Gräff

„Opfer“. Mehr steht nicht auf dem Transparent, das die Ausstellungsmacher an der Hamburger Finanzbehörde angebracht haben. „Opfer“ hat die alte Frau mit dem grauem Haarknoten gelesen, ist durch die Drehtür gegangen, die kurze Treppe hinauf und steht vor dem Damenfahrrad mit dem Kindersitz. „Hier saß meine Tochter Lisa. Sie verschwand am 3.5. 2003“ steht auf einem Pappschild, das im Kindersitz steckt.

„Wir sind aus Ostpreußen vertrieben worden“, sagt die alte Frau zu einer Mitarbeiterin des Weißen Rings. Sie sagt, dass ihr Sohn damals erschossen wurde. „Jetzt sind wir in einem Alter, wo man uns nichts mehr wegnehmen kann“.

Der Weiße Ring, der Opfer von Kriminalität unterstützt, stellt in einer Wanderausstellung Arbeiten von Bauhaus-Studenten aus. Arbeiten über Opfer sexuellen Missbrauchs und häuslicher Gewalt. „Die Bilder erfordern wegen der der teilweise sehr drastischen Darstellungen den Mut, nicht wegzuschauen und das Schweigen zu brechen“, steht im Faltblatt, das der Weiße Ring dazu herausgegeben hat. „Aber dies hier hat ein anderes Thema“, sagt die Mitarbeiterin des Weißen Rings zu der alten Frau aus Ostpreußen. „Das werd‘ ich mir hier nicht anschauen“, antwortet sie.

Aber andere gucken. Die Wanderausstellung, die schon seit einem Jahr läuft, ist so erfolgreich, dass man davon drei Ausfertigungen hat machen lassen. Auf den ersten Blick ist sie ganz unspektakulär: Keine Videos, keine Installationen. Fast nur Fotos. Der Weiße Ring hat nicht untertrieben: Sie sind tatsächlich drastisch. Ein kleines Mädchen in blauem T-Shirt und langem blonden Haar guckt schräg nach oben in die Kamera, darunter steht: „Diese Hure hat ihren Onkel verführt“. Auf einem sieht man den Kopf eines Kleinkindes im Großformat, statt eines Mundes hat es eine Öffnung wie Sexpuppen sie haben. „Mehr als 19.000 Kinder wurden im Jahr 2002 Opfer von sexuellem Missbrauch“, steht darunter. Und dann gibt es das Porträtbild eines Mannes, es ist ein grobes, abstoßendes Gesicht. „Schauen Sie sich dieses Gesicht genau an“, ist darunter zu lesen. „Und jetzt stellen Sie sich das dreijährige Mädchen vor, in das dieser Mann gerade sein Glied zwängt.“

Es packt einen das Grauen, wenn man diese Bilder sieht. Sie verbreiten den größtmöglichen Schrecken. Die meisten tun es über die Bilder von Kindern, einige auch über die Texte. Da sieht man dann nur schemenhaft ein Kindergesicht und darüber in roter Schrift die Sätze: „Wenn du ein Kind missbrauchen willst, dann nimm eines, das bereits missbraucht wurde. Das Kind wird denken, dass diesmal weniger Schlimmes geschieht. Zitat eines Sexualstraftäters.“ Nicht alle Arbeiten sind so drastisch wie diese. Es gibt Verbände für „Wunden, die nicht heilen“ und Fotos von Türklingeln, bei denen an einer „Täter“ steht. Aber sie sind in ihrer Indirektheit die Ausnahme in dieser Ausstellung, die den Besucher letztendlich ratlos lässt.

Denn nach dem spontanen Grauen bleibt ein Unbehagen, das nichts mit dem Schrecken über die Tat zu tun hat. Sondern mit der Art, wie darauf aufmerksam gemacht wird. Mit der Ahnung, dass sich manche dieser Fotos auch in den Magazinen von Pädophilen einreihen ließen.

Die Sprache, die hier benutzt wird, ist die der Boulevard-Zeitungen. „Diese Frau hat...“, diese Zeile ist dort jeden Tag neu zu lesen. Natürlich ist das kein Zufall. Natürlich erreicht man so die Leute. Oder eben mit plakativen Bildern. Die Tierschutzorganisation PETA mit ihren Fotos nackter Fotomodelle war wohl die erste, die radikal mit dem wohlmeinend-betulichen Gestus früherer Kampagnen brach. Es hat nicht den Anschein, dass sie damit die Zahl der Pelztierträgerinnen drastisch reduziert hätte, aber die Organisation ist damit allgemein bekannt geworden. Was missbrauchten Kindern und Frauen angetan wird, lässt fast jeden Einspruch verstummen. Was tut Ähnlichkeit mit Boulevard-Journalismus zur Sache, wenn man damit die Umgebung aus ihrem selbstgewählten Unwissen aufschrecken kann?

Der weisse Ring beklagt, dass die Opfer allein gelassen würden. „Der Täter hat Anspruch auf Rechtsbeistand, erhält gerade bei schweren Delikten durch Umschulungen, Ausbildungen oder sonstige Angebote zur Persönlichkeitsentfaltung seine Chance“, so steht es gleich zu Beginn der Ausstellung zu lesen. Der Täter: In dieser Ausstellung kann man sein Gesicht so sehen, wie es die Bild-Zeitung gern abdruckte. Am liebsten mit Adresse.

Fachleute wie der Chefarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ostremer, Friedrich Schwerdtfeger, sehen die Gewichtung ganz anders. „Gerade in den letzten fünf bis zehn Jahren ist die Behandlung sexuell traumatisierter Patienten weiterentwickelt worden, während die der Täter eher in den Hintergrund getreten ist.“ Und vor allem: „Wir verstehen unsere Arbeit als Opferprävention.“ Gerade die Konzentration auf die Opfer habe in der Vergangenheit den Blick darauf verstellt, dass die späteren Täter vielfach früher Opfer von körperlicher Gewalt gewesen seien.

Es sei erschreckend, so sagt Schwerdtfeger, über wie viele Generationen sich die Gewalt fortsetze. „Die 40-, 50-Jährigen, die heute Täter sind, sind von traumatisierten Eltern aufgezogen worden.“ Die Forscher können dieses Gewalterbe soziologisch ausreichend erklären. Dennoch entwickelt die biologische Psychiatrie zusätzliche Theorien darüber, ob es sich dabei um eine Gedächtnisinformation handelt. Vermutlich gibt es auch für die Fähigkeit zum Mitleid sowohl eine biologische als auch eine soziologische Erklärung. Vermutlich hat sie etwas mit der Vorstellungskraft des Einzelnen zu tun. Aber es scheint unwahrscheinlich, dass man die Anteilnahme der Menschen an anderen durch eine Verstärkung der optischen Auslöser erhöhen könnte.

Die Mitarbeiterin vom Weißen Ring, so stellt sich in der Hamburger Finanzbehörde heraus, kommt auch aus Ostpreußen. „Ich war zwei Jahre alt bei der Flucht“, sagt sie. Dann könne sie sich sicher nicht vorstellen, wie es damals gewesen sei, meint die alte Frau. „Ich habe von meinen Eltern einiges gehört“, sagt die Frau vom Weißen Ring. Aber die alte Frau aus Ostpreußen glaubt nicht daran, dass man erfassen kann, was man nicht selbst erlebt hat. „Das kann keiner verstehen“, sagt sie. „Wenn mein Vater damals vom Weltkrieg gesprochen hat, sagte die Mutter immer nur: ,Ach Gott‘“.

„Opfer“, bis 11. April, Leo-Lippmann-Saal, Finanzbehörde am Gänsemarkt, Hamburg. Mo–Fr 10–18 Uhr

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