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K.-P. KLINGELSCHMITT ÜBER ÄLTER WERDENWORAN WERDEN SICH DIE STAATSBÜRGER IN 20 JAHREN NOCH ERINNERN? AN EIN FUSSBALLSPIELRatlos vor dem Wahllokal

Werder (Bremen) ist wichtiger als Westerwelle (Deutschland und die Welt), konstatierte kürzlich unser Alterskamerad Jürgen Trittin. Und so wie ich als passionierter Anhänger der Fußballvereine Bayern München (Arte calcio) und Eintracht Frankfurt (patrie la premiere), werden auch Sie, liebe Altersgenossinnen und -genossen der Generation 50 plus links, dem Fraktionschef der Grünen im Bundestag nicht widersprechen.

Natürlich ist auch richtig: Tritt ihn, den Ball nämlich, einer wie Robben (FC Bayern München) oder Messi (FC Barcelona) in des Gegners Tor, ist das sogar wichtiger als Trittin. Aber das weiß der im Vergleich mit Westerwelle oder gar mit dessen Brüderle – eine Karikatur von einem Bundesminister – tatsächlich professionell auftretende und sympathische Berufspolitiker selbst. Und die (neue) Bescheidenheit, ziert den grünen Mann.

Unser westdeutsches Generationenprojekt Die Grünen hat sich dagegen von uns verabschiedet. Heimat- und orientierungslos geworden, stehen wir undogmatisch links sozialisierten und deshalb auch nicht der Partei Die Linke zugeneigten Individualisten von My Generation ratlos vor den Wahllokalen. Schließlich wurden wir auch von der von uns mit Rücksicht auf ihre früheren Verdienste viel zu lange am Leben (Tropf) gehaltenen SPD bitter enttäuscht. Und jetzt auch noch die Grünen. Für unseren (guten) Geschmack treiben sich inzwischen auch bei ihnen zu viele, von Mars mobil gemachte Karrieristen herum. (Verbal)radikal sind die Grünen nur noch in der Opposition (peinlich und lächerlich zugleich). Und ihre skrupellosen Blender etwa vom Schlage eines Hubert Ulrich, genannt der Panzer (Chef Grüne Saar), sind ein Ärgernis für alle aufrechten Demokraten und Republikaner im Lande. Summa summarum also: Aus und vorbei, da hilft auch kein Jammern, kein Beten, kein Trick (Degenhardt).

Unpolitisch sind eine solche sich im Alter wohl noch weiter verfestigende Abstinenz von jeder Parteipolitik und die damit einhergehende Hinwendung zum Fußball aber nicht. Der Calcio war bereits im Florenz der Medici weit mehr als nur Ablenkung für das Volk, sondern auch „ein Mittel zur Selbstdarstellung und zur Festigung der staatsbürgerlichen Tugenden“, wie der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in seinem Buch Florentiner Fußball: Die Renaissance der Spiele (rein, raus nix) schreibt. Und waren wir 1970 ff. nicht schon einmal (fast) alle Spontis und freie Kicker (Ostpark) – zart im Bett und hart gegen die Bullen (Graffito Soziologenturm Uni Frankfurt) –, die parteienlos und an vielen Fronten für eine bessere Welt fochten? Eben!

An einen Kunstschuss ins Tor nach einem Dribbling über das halbe Feld, wie der von Robben im Pokalhalbfinale gegen Schalke am 24. März 2010, werden sich die Staatsbürger noch in 20 Jahren erinnern. So wie heute noch an die Erscheinung der Hand Gottes (Maradona). Oder an Rahn, wie er aus dem Hinterhalt schießen müsste, und dann tatsächlich schießt und trifft. Und das Brüderle, der Panzer und all die anderen Politikerdarsteller? Die sind heute schon so gut wie vergangen, vergessen, vorüber, vergangen, vergessen, vorbei … K.-P. KLINGELSCHMITT

Hinweis: ÄLTER WERDEN Welchen Verein mögen Sie? kolumne@taz.de

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