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Auf das Gedeihen gebaut

Ein Roman, der nie erscheint, ein Verleger und sein Autor, die trotzdem an den Roman glauben, und ein Scheitern, das zu dem wohlgelittensten in der deutschen Nachkriegsliteratur gehört: Der Briefwechsel von Wolfgang Koeppen und Siegfried Unseld

„Lieber Siegfried, ich werde dieses Buch und andere Bücher fertig schreiben. Lasse mich das schreiben, störe mich nicht“

VON GERRIT BARTELS

1984 war ein bewegtes Jahr für den Suhrkamp Verlag und Siegfried Unseld und somit auch für den Suhrkamp-Autor Wolfgang Koeppen. Es galt, den 70. Geburtstag von Helene Ritzerfeld zu feiern, einer Mitarbeiterin des Verlages seit 34 Jahren, zuständig für Lizenzen, Rechte und Verträge. Uwe Johnson starb einen einsamen Tod in seinem Haus in Sherness-On-Sea in England, woraufhin Koeppen im Stern einen Nachruf auf Johnson schrieb mit dem Titel: „Ein Bruder der Massen war er nicht“. Es erschien, flankiert von einem zehnbändigen „Jubiläumsprogramm“, darunter Koeppens Feuilletons „Die elenden Skribenten“, der 1000ste Titel in der Suhrkamp-Taschenbuchreihe, Ludwig Hohls „Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung“. Eine deutsche Buchmesse in Madrid war für das kommende Jahr in Planung, mit einem großen Suhrkamp-Stand, und schließlich klappte es Ende des Jahres noch mit der Gedenkstunde für Uwe Johnson.

Unseld unterrichtet Wolfgang Koeppen per Brief über die Ereignisse, nicht zuletzt, weil Koeppen immer wieder beteiligt sein soll an den Geburtstags- und Trauerfeierlichkeiten, entweder mit Textbeiträgen und Reden oder mit seiner Anwesenheit als einer der wichtigen und großen Autoren des Verlages. Für Koeppen selbst aber muss 1984 noch aus anderen Gründen turbulent gewesen sein: Seine Frau Marion stirbt in diesem Jahr. Nur, und das ist das Überraschende: In den Briefen zwischen Unseld und Koeppen ist mit keinem Wort die Rede davon. Mögen beide den Tod von Frau Koeppen am Telefon oder bei einem privaten Treffen besprochen haben, mag ihr jetzt von Alfred Estermann und Wolfgang Schopf herausgegebener Briefwechsel in erster Linie ein sachlicher, um die literarische Produktion und Verlagsdinge kreisender gewesen sein – die Tatsache dieser Nichterwähnung ist eine umso erstaunlichere, als dass Koeppen in den Briefen an Unseld die Jahre oft genug sein Leid mit seiner psychisch- und alkoholkranken Frau geklagt hat: „Lieber Siegfried“, schreibt er am 24. April 1972, „es ist schrecklich diesen Brief zu schreiben. Ich bin verzweifelt. Es ist ohne Hoffnung. Marions Düsternisse, Depressionen, Existenzängste, deliere Vorstellungen, Zwangsideen sind in letzter Zeit schlimmer, erbarmungswürdiger und unerträglich geworden. Schnaps, Wein und Tabletten eingeschmuggelt und versteckt, nachts genossen, tagelang kein Schlaf, Aggression gegen mich und alle Welt, Tobsucht, Schreie, Tätlichkeiten, Skandal im Haus, Kündigungsdrohung. Sie ist nicht ansprechbar. Ich kann nicht mehr (…).“

Briefe wie diese sind die furiosesten, bewegendsten, längsten, die Koeppen an Unseld geschrieben hat, und dazu die literarischsten, erinnern sie doch in Duktus und Expressivität an seine drei großen Romane „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“ und „Tod in Rom“. Verwundert und staunend reagiert auch Unseld einmal auf einen ebensolchen Brief von Koeppen: „Als ich Ihren Brief vom 18. August (1967) las, dachte ich, welch ein Brief, welch ein Dokument, welch ein Schreiber. Ich sah Ihre Situation, die Sie so schilderten, wie dies in einem „Roman“ nie möglich wäre, und war doch ratlos (…).“

Die Situation, die Koeppen immer wieder schildert, ist die, das Buch, den Roman, den Text oder wenigstens das Manuskript nicht zum verabredeten Termin liefern zu können. Wenn es hart auf hart kommt, der Abgabetermin verstrichen ist, dann ist nicht selten die Ehefrau dafür verantwortlich, dass Koeppen „wieder aufgerissen wurde“, er „keine Möglichkeit zur Konzentration“ findet, er wieder „in der Falle“ steckt. Wie viel Wahrheit darin liegt, wie sehr sich hier einer, der immer wieder neue Romangrundrisse zeichnete und Termine einzuhalten versprach, sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als den Trouble mit der kranken Ehefrau vorzuschieben, das dürfte nur Koeppen selbst gewusst haben. Seine Begründungen jedenfalls wirken überzeugend, und als Mühlstein in seinem Dasein als produktiver Schriftsteller ist Marion Koeppen unverzichtbar und von Unseld auch akzeptiert.

Nicht deutlich in den Briefen wird, und das zeichnet einen guten Verleger ja ebenfalls aus, ab wann Unseld nicht mehr an den Roman glaubt, auf den er fast zwei Jahrzehnte geduldig wartet und den Koeppen manchmal großspurig und überzeugend, manchmal kleinlaut und zaghaft verspricht; ab wann das Festhalten daran zu einer Inszenierung wird, auch zu einer Art therapeutischen Schriftstellerbetreuung; ab wann aus dem „Fall Koeppen“ das berühmteste, wohlgelittenste Scheitern der deutschen Nachkriegsliteratur wird.

Als sich Koeppen und Unseld Ende der Fünfzigerjahre kennen lernen und es um den Wechsel Koeppens zu Suhrkamp geht, sind beide voller Hoffnung und Tatkraft. An einem Roman aber hat Koeppen schon über fünf Jahre nicht mehr gearbeitet. Seine große Fünfzigerjahreromantrilogie hatte er 1954 abgeschlossen, ohne dafür die Anerkennung eines großen Publikums und von Teilen der Kritik zu bekommen. In Folge waren von ihm nur noch Reisebücher erschienen, dessen letztes sein späterer Förderer und Bewunderer Marcel Reich-Ranicki 1961 zu einem vorsichtigen Verriss veranlasste („Rückzug ins Unverbindliche“, „Sackgasse“). Koeppen war für Reich-Ranicki ein „ungewöhnlicher Fall“ und dessen Romanproduktionsstau auch ein Versagen der Kritik. Unseld warb um Koeppen, als es in dessen Hausverlag Goverts zu Umstrukturierungen kam, „bauen wir, lieber Herr Koeppen, auf das Gedeihen“, und er warb in Folge intensiv um den neuen Roman seines 1962 mit dem Büchnerpreis ausgezeichneten Autors.

Dabei stellt ihr Briefwechsel selbst, zumindest der bis Mitte der Achtzigerjahre, ein einzigartiges Epos dar. Es ist die Geschichte eines Verlegers, der versucht, zu ermuntern, ungestörte Schreibmöglichkeiten zu schaffen, zu inspirieren, der Geld anweist, Termine setzt, Druck macht, der Koeppen aus unveröffentlichten Manuskripten auf Kritikerempfängen lesen lässt (1962 und 1974) und Koeppen-Bücher, die niemals erschienen, in Frühjahrs- und Herbstprogrammen ankündigt. Und es ist die Geschichte eines Autors, der wortreich seinen Roman entwirft, der offen um Geld ersucht und seine materiellen Zwangslagen schildert, und der immer wieder Gründe findet, warum wieder nichts aus dem Roman wurde. „Theseus, fast nichts“ hieß einer, „Bismarck oder Alle unsere Tränen“ ein anderer, „Der Maskenball“, „In den Staub mit allen Feinden Brandenburgs“ oder „Tasso oder Die Disproportion“ andere, und aus allen wurde: fast nichts. Was wurde, in einem Zeitraum von über zwanzig Jahren: „Romanisches Café“, ein Prosaband mit älteren Erzählungen, „ziemlich schwache Stücke: flüchtige oder nebensächliche Gelegenheitsarbeiten“, wie Reich-Ranicki 1973 in der Zeit monierte; und das tatsächlich neue Prosafragment „Jugend“, das 1976 erschien und über 35.000-mal verkauft wurde.

So rar neue Koeppen-Bücher aber waren, so vorbildlich kümmerte sich Unseld um das Koeppen-Werk. 1972 wird die Veröffentlichung der Taschenbuchausgabe von „Das Treibhaus“ wie eine Premiere gefeiert: „Lieber Wolfgang, unser erstes gemeinsames Unternehmen präsentiert sich leuchtend blau: ‚Das Treibhaus‘ erscheint in diesen Tagen als suhrkamp taschenbuch Nr. 78; (…). Ich hoffe sehr, Dir gefällt die Art und Weise, wie wir unser Treibhaus verlegt haben“, schreibt Unseld. Die vor dem Krieg geschriebenen, unausgegorenen Koeppen-Romane werden veröffentlicht, es gibt zum 80. Geburtstag von Koeppen die Romantrilogie in einer Bibliothek-Suhrkamp-Ausgabe sowie eine Werkausgabe, und noch jeder von Koeppens kleinen Texten für ein Vorwort, ein Nachwort oder eine Jubiläumsausgabe ist für Unseld Anlass, damit andere Bücher zu bewerben oder festlich zu begehen.

Dieser Briefwechsel offenbart über die Koeppen-Problematik hinaus sehr gut, wie Unselds Suhrkamp Verlag Autorenpflege betrieb, wie hier ein Autor, einmal zur Familie gehörend, betreut und in viele Verlagsangelegenheiten eingeweiht wurde. So erzählen gerade Unselds Briefe gleichzeitig eine kleine Suhrkamp-Geschichte, in der der Lektorenaufstand 1968 genauso Thema ist wie diverse Jubiläumsreihen wie etwa das Weiße Programm, mit dem das Frühjahr 1983 unter dem Verzicht auf Novitäten mit 33 Büchern aus 33 Jahren bestritten wurde. Um Bücher hervorzuheben, wie Unseld schreibt, „die noch nach Jahren Wirkungen ausüben“, darunter Koeppens früher, erstmalig bei Suhrkamp erschienener und mit Leseexemplaren beworbener Roman „Die Mauer schwankt“.

Dass nach 1984 die Intensität des Schriftverkehrs nachlässt und hauptsächlich noch Jubiläen und Feierlichkeiten, aber kaum Buchprojekte verhandelt werden, versteht sich, bedenkt man das Alter Koeppens und Unselds Betreuungswandel. Die Sorge um seinen Autor steht jetzt im Vordergrund, so notiert er an anderer Stelle: „Zum ersten Mal macht er den Eindruck, als hätte er nicht mehr die Kraft, überzeugend darzulegen, daß er sein Manuskript doch noch bis zum 31. Dezember 1984 beenden wollte.“ Auch nicht mehr an die Autobiografie glaubt Unseld, dieses letztes große Projekt Koeppens.

Wie sehr aber Koeppen seine Schriftstellerprofession auch ohne größere Schriften verinnerlicht hat, das beweisen noch seine letzten Briefe, in denen er, fast neunzigjährig und unter Altersdemenz leidend, Unseld auffordert: „Komm an meinen leeren Schreibtisch voll von meinen Träumen“. Oder, im allerletzten, am 14. August 1995, ein Dreivierteljahr vor seinem Tod: „Lieber Siegfried, ich werde dieses Buch und auch andere Bücher fertig schreiben. Lasse mich das schreiben, störe mich nicht.“

Alfred Estermann/Wolfgang Schopf (Hg.): „Der Briefwechsel Wolfgang Koeppen – Siegfried Unseld“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 584 Seiten, 24,80 €

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