: Das Volk in friedlicher Trance
CHILE Bilder vom Aufbruch, aber auch vom Widerspruch aus den Tagen der sozialistischen Regierung Salvador Allendes haben John M. Hall und Michael Ruetz fotografiert. Zu sehen sind die Fotos aus Chile im Willy-Brandt-Haus
VON SEYDA KURT
Eine Ausstellung über das, was gut war und verloren gegangen ist, soll es sein. Die Fotografien von John M. Hall und Michael Ruetz zeigen Chile in den Jahren 1971–1973, unter der Regierung Salvador Allendes mit dem linken Parteienbündnis Unidad Popular, die nur 1.000 Tage andauerte. In dieser Zeit durchlebte das Land eine einzigartige Phase seiner Geschichte. Bei den Präsidentschaftswahlen 1970 siegte zum ersten Mal ein Kandidat, der einen friedlichen Weg zum demokratischen Sozialismus einschlagen wollte. Am 11. September werden vierzig Jahre vergangen sein, seitdem Allende durch den Militärputsch von dem General und späteren Diktator Pinochet gestürzt wurde.
Auf einem der schwarz-weißen Bilder auf der Ausstellung sieht man ein junges Pärchen auf einer Demonstration für den Präsidenten: ein gut aussehender Mann in einem weißen Hemd, so wie man sich einen lateinamerikanischen Don Juan vorstellt. Daneben steht seine Freundin, ein zartes Mädchen in einem sommerlichen Kleid, und in der Hand hält sie eine große Fahne . Auf anderen Bildern sieht man weitere Demonstranten: feiernde Jugendliche, Frauen, lachende Kinder, applaudierende alte Menschen und sogar friedlich schlummernde Säuglinge in den Armen ihrer Slogans rufenden Mütter. Man fragt sich oft, wie authentisch oder gestellt die Bilder der zwei Fotografen sind.
John Hall arbeitete ab den 1960ern zunächst in der Entwicklungspolitik, wurde jedoch in den 70ern Schüler der brasilianischen Fotografin Maureen Bisillat, deren Werk vorrangig sozialen Themen gewidmet ist. Vor allem er zeigt das Volk in einem „Zustand friedlicher Trance, in überschäumendem Optimismus und lyrischen und poetischen Ausbrüchen“, wie es der chilenische Schriftsteller und ehemaliger Botschafter in Deutschland, Antonio Skármeta treffend beschreibt.
Michael Ruetz hingegen zeigt auch die weniger schönen Seiten. Als ihn der Stern 1970 für Chile engagierte, sei es um zwei Fragen gegangen, erzählt er in seinem rückblickenden Text zu seiner Reportage aus dem Jahre 1971: Einmal, wie dieses ferne, unbekannte Land überhaupt aussähe. Und zweitens, warum gerade dort eine Revolution stattfände. „Die Bilder der Landschaft, die der Stern vorrangig von mir erwartete, interessierten mich nicht so sehr, wie der politische Umschwung, den Allende in Gang zu bringen versuchte.“ Für Ruetz war Allende als „guter Revolutionär“ ein Gegenbild zu Stalin, Mao und Pol Pot. Trotzdem, so erzählt er, täuschte die heitere Stimmung im chilenischen Santiago über viele Probleme hinweg. Es wurde täglich auch gegen Allende demonstriert, es gab Streiks und Sabotage, als Reaktion auf die Nationalisierungs- und Enteignungspolitik Allendes, und es gab schlechte Arbeitsbedingungen.
Aus diesem Grund zeigt Ruetz auch Bilder von rechten Gegendemonstranten. Er zeigt Straßenarbeiter, die während ihrer Mittagspause in lumpiger Kleidung auf dem steinigen Boden sitzen, und wie Lastträger viele Liter Wasser in die 4.000 Meter hohe Kupfermine El Tenientes tragen. „Eine Illustration des Mythos von Sisyphos“, nennt Ruetz die Szene. Und dann sind da natürlich noch die Bilder des charismatischen Präsidenten, dem „Chicho“, wie ihn alle familiär genannt haben, der sich seiner Ausstrahlung stets bewusst war. Stark gestikulierend und zu seinem Volk sprechend zeigt ihn eine Vierer-Serie von John M. Hall. Sein weißes Hemd sticht in der schwarz-weißen Fotografie hervor, als würde es seine Versprechen nach Optimismus und Hoffnung unterstreichen.
Eingeladen zu der Eröffnungsfeier der Ausstellung im Berliner Willy-Brandt-Haus, war neben John M.Hall und Michael Ruetz auch Oscar Vega, ein Journalist und Weggefährte von Salvador Allende. Im Jahre 1964 arbeitete er im Wahlkampf in der persönlichen Arbeitsgruppe des damaligen Präsidentschaftskandidaten und Senators. Vega ist einer von etwa einer Million Flüchtlingen, die Chile während und nach dem Putsch verließen. Der Putsch löschte sein ganzes Berufsleben aus. 1990 kehrte er aus dem politischen Exil, das ihn nach Argentinien, Rumänien und auch nach Berlin geführt hatte, zurück in sein Heimatland. Hier erwartete ihn nicht nur ein anderes, unbekanntes Chile, sondern auch die Abneigung seiner ehemaligen Weggefährten, die ihm Verrat durch seine Flucht vorwarfen.
1994 kehrte Oscar Vega zurück nach Europa und lebt heute in Lissabon, wo er weiterhin als Journalist arbeitet. Traurig erzählt er bei einem Gespräch vor der Ausstellung: „Ich musste sozusagen zwei Mal ins Exil. Ich weiß nicht mehr, wo mein Vaterland ist. Es geht mir wie vielen anderen Chilenen.“
■ Bis 18. September, Stresemannstraße 28
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